Semiotische Imagologie
I.
Als 'komparatistische Imagologie' bezeichnet sich eine Forschungsrichtung innerhalb der vergleichenden Literaturwissenschaft, die kulturelle, nationale und soziale Selbst- und Fremdbilder (Auto- und Hetero-Images) innerhalb der Literaturen zum Gegenstand hat, die also letztlich literarische Konstrukte je 'eigener' bzw 'fremder' (aliener) oder auch 'anderer' (alteritärer) Identität innerhalb der ästhetischen Kommunikation einer raumzeitlichen Kultur untersucht. Denn derartige Selbst- bzw. Fremdbilder beruhen - ob implizit oder explizit - notwendig auf Abgrenzungen von 'Eigenem' einerseits und 'Fremdem' bzw. 'Anderem' andererseits. Sie geben also Aufschluss über diejenigen Merkmale, die eine gegebene Kultur als zu sich selbst gehörig definiert bzw. als nicht zu sich selbst gehörig ausgrenzt. Von den literaturwissenschaftlichen Ursprüngen ausgehend werden mittlerweile in vielen kulturellen Bereichen Ursprung, Genese und Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern analysiert - um nur wenige zu nennen: in der 'Volkskunde'/Ethnologie, der Soziologie, den Übersetzungswissenschaften und nicht zuletzt den Medienwissenschaften. Die Imagologie ist demnach heute diejenige interdisziplinäre Teildisziplin der Kulturwissenschaften, die sich mit den Vorstellungen, Bildern einer Kultur/Nation/Sozietät von sich selbst bzw. von fremden oder anderen Kulturen/Nationen/Sozietäten befasst.
II.
Im semiotischen Begriffsverständnis bezeichnen die imagologischen 'Bilder'/ 'Images' metaphorisch Konstrukte aus bestimmten Merkmalskorrelationen, die als konstitutiv für eine jeweilige (kulturelle) Entität angesehen werden, wobei Jurij M. Lotman diesbezüglich zwei sehr allgemeine Einstellungen unterscheidet: diejenige, die die eigene Kultur als die einzige betrachtet, während sie 'Fremdheit' mit 'Nicht-Kultur' gleichsetzt, und diejenige, die einige oder viele alternative, innerlich selbständige Kulturtypen differenziert (Lotman 1974). Als Material zur Erforschung kultureller Selbst- und Fremdbilder können nun lediglich medial vermittelte Texte herangezogen werden (zu dem hier zugrunde gelegten 'Text'-Begriff vgl. das Glossar), zumal wenn es sich um die Rekonstruktion von Images vergangener Kulturen handelt (z.B. in der exotistischen Malerei der Frühen Moderne oder hinsichtlich der 'Heimat'-Konstrukte in deutschen Heimatfilmen der 1950er Jahre) und unbenommen, ob es sich dabei beispielsweise um überlieferte sprachliche Äußerungsakte, literarische, filmische, fotografische, architektonische (etwa im Fall der nationalen Selbstrepräsentation durch Gebäude im Rahmen von Weltausstellungen) oder printmediale Konstrukte handelt (z.B. Konstruktionen Schwedens in IKEA-Katalogen oder Spaniens in der Tourismuswerbung).
Da die Selbst- und Fremdbilder also medial transportiert werden und wie jeder Text sich mittels einer Auswahl und Kombination von Zeichen aus einem gegebenen primären Zeichensystem vollziehen, handelt es sich dabei um sekundäre semiotische Modelle, die in einer referentiellen Beziehung zur Wirklichkeit stehen können oder eine eigene textuelle 'Wirklichkeit' erst konstituieren. 'Selbst- und Fremdbilder' von Kulturen, ob in referentiellen oder in ästhetischen Kommunikationsakten, lassen sich somit im Sinne Lotmans als je semantische Felder (bzw. semantische 'Räume'), zwischen denen eine Grenze gesetzt ist, auffassen und hinsichtlich der enthaltenen Merkmale und Merkmalskorrelationen sowie der semantisch-logischen Oppositions- und Äquivalenzrelationen zwischen den 'eigenen' und 'fremden' bzw. 'anderen' Kulturkonstruktionen kultur- bzw. mediensemiotisch analysieren.
Die Art und Weise, in der sich die Grenze zwischen etwa 'Eigenem' und 'Fremdem' konstituiert, ist dabei jeweils textspezifisch: Sie kann durch einen Text beispielsweise als eine statische modelliert werden und somit eine Ordnung statuieren, in der 'Eigenes' und 'Fremdes' als sich ausschließend behandelt werden, oder als eine dynamische, die etwa durch eine potenzielle Integration von 'Fremdem' in das 'Eigene' als prinzipiell veränderlich und temporär gedacht ist (zu der Problematik der Assimilierung, 'Aneignung' und damit einer Tilgung der fremden 'Eigenheit' vgl. weiterführend Waldenfels 1997). Da die kultur- bzw. textspezifische Modellierung der Merkmalsbündel 'Eigenes' vs. 'Fremdes' wie auch die der Grenze zwischen diesen Bereichen auf Propositionen beruht, die in der Regel selbst nicht mehr hinterfragt werden, ist der Akt einer derartigen Grenzziehung immer ein ideologischer. Eine wesentliche Aufgabe der semiotisch-imagologischen Textanalyse ist die Rekonstruktion dieser (Voraus-)Setzungen und der diskursiven textuellen Strategien, die bei der Verhandlung von 'Eigenem' und 'Fremdem' Anwendung finden.
III.
Eine semiotische Imagologie vermag also Fragen von fundamentaler kultureller und sozialer Relevanz zu klären, die das Selbstverständnis einer Kultur in mehrerer Hinsicht offen legen - Fragen wie: Welche Merkmale entwirft eine Kultur/ein Text als zu sich gehörig und welche Merkmale werden ausgegrenzt? Wie 'denkt' eine gegebene Kultur über sich selbst und über andere Kulturen? Welche diskursiven und textuellen Strategien werden verwendet, um die eigene Kultur gegenüber anderen zu positionieren? Welche kulturellen Wertungen werden praktiziert? Welche fremdkulturellen Anteile werden in Relation zu der eigenen Kultur als nicht wünschenswert, welche als wünschenswert erachtet? Wie und mittels welcher Merkmale konstituiert sich also kulturelle 'Identität' und wie grenzt diese sich ab? Welche Vergleichsgrößen sind überhaupt jeweils kulturell relevant gesetzt und wie wandeln sich diese historisch? Werden dem 'Eigenen' kontrastierte kulturräumliche Entitäten als alternative Sozialsysteme (z.B. 'Großstadtsozietät' vs. 'ländliche Sozietät' in Filmen wie Sweet Home Alabama), als politisch/religiös-ideologische Kontrahenten (z.B. USA vs. UdSSR im Kalten Krieg) oder als metaphorisch-uneigentliche Repräsentationen von 'inneren Kulturkrisen' (z.B. 'europäischer Norden' vs. 'tropischer Süden' als eurozentristische Zeichen einer Körper- und Entwicklungsstufentopographie in literarischen Texten der Frühen Moderne, vgl. dazu Nies 2008) behandelt?
Gegenstand einer semiotisch-imagologischen Analyse sind aber nicht nur solche Texte, die über eine Kontrastierung von 'Eigenem' und 'Fremdem'/ 'Anderem' explizite Kulturvergleiche etablieren, sondern können all jene Texte sein, die in irgendeiner Weise modellhaft soziale/nationale/kulturelle Identitäten konstruieren – worunter somit jeder Text fallen dürfte, der auf eine soziale Entität referiert und dieser bestimmte konstitutive semantische Merkmale zuschreibt. Neben philosophischen Texten oder medialer Berichterstattung sind nun Literatur, Film, Comic, Werbung usw. als ästhetische kommunikative Hervorbringungen einer gegebenen raumzeitlichen Kultur (als solche müssen auch vergangene Epochen gedacht werden) 'kulturelle Speicher' insofern, als sie auf das verweisen, was in dieser Kultur gedacht wird bzw. wurde. Aus den narrativen Konstrukten etwa, den Geschichten, die eine Kultur produziert (und deren statistische Häufung bestimmter Merkmale erst eine 'Epoche' konstituiert, wobei das Wertungskriterium, ob diese 'hochkulturell' oder 'trivial' seien, prinzipiell nur insoweit relevant ist, als sich daraus Schlüsse über kulturelle Hierarchisierungs-Praktiken ziehen lassen) lassen sich immer auch dominante Diskursformationen, zentral verhandelte Problemkonstellationen und -lösungsstrategien, das Wünschenswerte und Nicht-Wünschenswerte, Normen- und Wertsetzungen, Ideologien, Gesellschaftsmodelle, anthropologische Konstrukte sowie Konzeptionen von 'Glauben', 'Wissen' und 'Realität' dieser Kultur rekonstruieren.
VI. Literatur zum Einstieg
- Bleicher, Thomas: Elemente einer komparatistischen Imagologie. In: Komparatistische Hefte; 2 (1980), S. 12-24.
- Engel-Braunschmidt, Annelore / Gerhard Fouquet u.a. (Hgg.): Ultima Thule: Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main u.a. (2001)
- Fischer, Manfred S.: Komparatistische Imagologie - Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10 (1979), S. 30-44.
- Lotman, Jurij M. Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibungen. In: Ders. Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Kronberg (1974), S. 338-377.
- Magill, Daniela: Literarische Reisen in die exotische Fremde: Topoi der Darstellung von Eigen- und Fremdkultur. Frankfurt am Main (1989).
- Nies, Martin. Der Norden und das Fremde: Kulturkrisen und ihre Lösung in den skandinavischen Literaturen der Frühen Moderne; Hamsun - Heidenstam - Ibsen - Jensen - Jæger - Wied. Kiel (2008).
- Nies, Martin. 'Deutschland' als mediales Raum- und Identitätskonstrukt: Grundlagen einer kultursemiotischen Imagologie. In Ders. (Hg.). Deutsche Selbstbilder in den Medien von 1945 bis zur Gegenwart: Film. Marburg [im Erscheinen].
- Schwarze, Michael: Lemma Imagologie, komparatistische. In: Ansgar Nünning (Hg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart 32004, S. 284-286.
- Titzmann, Michael: Aspekte der Fremdheitserfahrung: Die logisch-semiotische Konstruktion des 'Fremden' und des 'Selbst'. In: Bernd Lenz und Hans J. Lüsebrink (Hgg.). Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen: Theorieansätze, Medien / Textsorten, Diskursformen. Passau (1999), S. 89-113.
- Turk, Horst: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik. In Jahrbuch für Internationale Germanistik 22.1 (1990), S. 8-31.
- Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt am Main (1997).