Die Frage "Warum eigentlich Istanbul?" wurde mir oft gestellt, aber bis heute kann ich sie nicht genau beantworten. Ich hatte Lust auf Kontrastprogramm zu Passau und da konnte ich es mit der 15-Millionen-Stadt wohl nicht besser treffen. Fast sieben Monate habe ich in der Türkei verbracht, zunächst mit meinem Studium an der Marmara Universität und dann mit einem zweimonatigen Praktikum im Forschungszentrum für "Population and Social Policies". Dass sich mein Aufenthalt sehr gut mit meinem Studiengang der Staatswissenschaft vereinbaren ließ, hat sich noch auf vielen Ebenen gezeigt.
Als deutscher Staatsbürger kann man für drei Monate visumsfrei in der Türkei bleiben. Wenn man länger bleibt, muss man sich um eine Aufenthaltsgenehmigung bewerben. Der Prozess ist etwas langwierig und mit bürokratischem Aufwand verbunden, aber wenn man sich an die Vorgaben hält, dann ist das halb so schlimm. Die Wohnungssuche erwies sich als schwieriger als gedacht, da die Immobilienpreise in den letzten paar Jahren explodiert sind. Ich habe mir erst vor Ort eine Wohnung gesucht, was ich prinzipiell nicht empfehlen würde, da die meisten Zimmer zum neuen Semester schon vergeben waren. Diverse Facebook-Gruppen sind der beste Weg, ein Zimmer zu finden. Am besten sucht man sich eine WG mit türkischen Menschen, da die typischen Erasmus-Zimmer oft teurer sind. Obwohl man in Istanbul recht gut mit Englisch zurechtkommt, lohnt es sich auf jeden Fall, im Vorhinein etwas Türkisch zu lernen. Ich habe in Istanbul einen Türkischkurs besucht, der durch mein Erasmusstipendium gefördert wurde und konnte auch im Alltag noch viel dazulernen.
Da mein Praktikum leider nicht vergütet war, war ich dankbar, die Erasmusförderung für das Auslandspraktikum zu erhalten. Mithilfe der monatlichen Unterstützung konnte ich recht gut in Istanbul über die Runden kommen. Die Türkei steckt in einer großen Wirtschaftskrise mit hoher Inflation, doch wer Euros hat, profitiert. Der Umrechnungskurs ist günstig, somit sind Dinge wie Essen und Dienstleistungen preiswerter als in Deutschland. Die Wohnungssituation sollte man aber dennoch nicht unterschätzen, ich habe dort mehr für mein Zimmer gezahlt als in Passau.
Meine Praktikumsinstitution war ein kleines Forschungszentrum, das innerhalb der Marmara Universität etabliert ist. Während meines Praktikums im Population and Social Policies Application and Research Center habe ich als Forschungsassistentin gearbeitet. Das Arbeitsumfeld war sehr angenehm und alle MitarbeiterInnen und ForscherInnen kommunizierten mit mir auf Englisch. Meine Hauptaufgaben bestanden darin, literarische Rezensionen von Forschungspapieren zu nachhaltiger Sozialpolitik, Wohlfahrt, Umwelt und Wohlbefinden durchzuführen. Es ging darum, die wichtigsten Argumente und Schlussfolgerungen der englischsprachigen Forschungspapiere zusammenzufassen und zu analysieren, sowie herauszufinden, welche Methoden und Techniken genutzt wurden. Ich war an mehreren Projekten beteiligt und konnte so verschiedene Prozessstufen eines Forschungsprojekts kennenlernen, wie die Vorrecherche oder die Bewerbung für EU-Fördermittel. Außerdem nahm ich an regelmäßigen Treffen teil, bei denen die Mitarbeiterinnen und Forscherinnen des Zentrums über aktuelle Projekte und mögliche Zusammenarbeiten sprachen. Der Bezug zu meinem Studienfach war auf jeden Fall gegeben, da die Themen von Soziologie über Politik bis hin zur Geschichte reichten. Das Praktikum bot mir einen Einblick in den wissenschaftlichen Arbeitsalltag und vertiefte mein Verständnis für soziologische Themen mit türkischem Bezug.
Mein Auslandspraktikum in Istanbul zu machen, war die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können. Die Schönheit der Stadt und die großartigen Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, haben mich bis zum Schluss begeistert. Der Bosporus, der die europäische und asiatische Seite trennt, ist eine der Hauptattraktionen, und es gibt nichts Schöneres, als bei Sonnenuntergang auf der Fähre zu sitzen und die Möwen zu beobachten mit einem türkischen Çay in der einen Hand und einem Simit, dem leckeren Sesamring, in der anderen. Istanbul vereint eine dynamische und moderne Stadt mit historischen Gebäuden und Moscheen an jeder Ecke. Die Menschen sind sehr gastfreundlich und trotz Sprachbarrieren immer hilfsbereit und herzlich. Ich habe in Kadiköy gewohnt, einem jungen Stadtviertel mit vielen süßen Straßenkatzen und einem riesigen Kultur- und Freizeitangebot. Es gibt zahlreiche Kneipen, Cafés, Restaurants mit gutem türkischem Essen und viele Museen für Kunstinteressierte. Ich konnte in meiner Zeit in Istanbul Politik hautnah erleben und viel über die Türkei und die Denkweise der Menschen dort lernen. Ich vermisse meine Zeit in Istanbul schon jetzt sehr und freue mich auf das nächste Mal.
Die Türkei ist vielleicht nicht die erste Wahl bei vielen Studierenden und wird oft unterschätzt, da oft Vorurteile und Medienerstattung dazu beitragen. Das Land hat jedoch unglaublich viel Schönheit, kulinarische Erfahrungen und interessante Menschen zu bieten. Istanbul ist eine sehr sichere, einzigartige und inspirierende Stadt, die einen nicht mehr loslässt, wenn man einmal dagewesen ist.