Im besonderen Fokus des Lehrforschungsprojektes standen die Wählerwanderungen dieser Landtagswahl, die sich auch in den vorläufigen Ergebnissen schon klar nachzeichnen lassen.
Bayernweit: Dämpfer für CSU, Zulauf für Grüne, SPD in Auflösung
"Wir können zeigen, dass die CSU bayernweit in beträchtlichem Umfang Wählerinnen und Wähler verloren hat", sagt Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Knieper von der Universität Passau. "Die Ströme von der CSU weg speisen in recht ähnlichem Ausmaß die Grünen, und die Freien Wähler, in höherem Ausmaß von knapp 340 000 Stimmen die AfD. Die CSU kann diese massiven Abwanderungen aber durch die Mobilisierung von Nichtwählern zumindest etwas abdämpfen." Besonders interessant sei der Vergleich zur Bundestagswahl 2017: "Hier hat die CSU im Vergleich kaum verloren und die AfD nichts hinzugewonnen. Man darf sich also durchaus auch die Frage stellen, ob der Vormarsch der AfD letztlich an Tempo verliert", so Knieper. "Die Wählerwanderungsanalyse demonstriert jedenfalls ganz klar, dass die Austauschbeziehungen unter der Oberfläche sehr komplex sind."
Klare Gewinner aus Sicht der Wissenschaft sind die Grünen: Sie haben nicht nur massiv CSU-Wählerinnen und -Wähler (ca. 200 000 Stimmen) gewonnen, sondern auch bei der SPD (über 250 000) - "und sie haben zudem viele ehemalige Nichtwähler an die Urne mobilisiert", so Statistiker Dr. Joachim Schnurbus. Von Abwanderungen profitiert haben auch die Freien Wähler: Sie haben der CSU ca. 180 000 ehemalige Stimmen abgeworben, der SPD knapp 140 000 und der FDP ca. 50 000.
In großem Stil verloren hat die SPD - und dies sozusagen in alle Richtungen: Die meisten Stimmen gingen an die Grünen, aber auch die Freien Wähler, die Linken und die CSU haben von ehemaligen SPD-Stimmen profitiert. "Bei der SPD sehen wir ernstzunehmende Auflösungserscheinungen eines Auslaufmodells", konstatiert Knieper. "Angesichts der überraschend starken Gewinne der Grünen aus fast allen politischen Richtungen wird die SPD schwer zu ihrer einstigen Form als größte Oppositionspartei in Bayern zurückfinden können."
Die 5 wichtigsten Ergebnisse aus Passau
In zehn zufällig gezogenen Passauer Stimmbezirken nahmen über 60 Prozent der Wählerinnen und Wähler an der Nachwahlbefragung teil. Die Kernergebnisse sind:
- Die CSU verliert Wählerinnen und Wähler an fast alle Parteien, die meisten an die AfD (9,7 Prozent) und die Grünen (9,3 Prozent)
- Die SPD, FDP und die Linke haben jeden Fünften an die Grünen verloren (jeweils ca. 20 Prozent).
- Die größte Loyalität weisen in der Stadt Passau die Wählerinnen und Wähler der Grünen auf: 74.2 Prozent der Grünen-Wähler von 2013 haben diese erneut gewählt.
- Die geringste Loyalität hat die SPD: Nur etwa ein Drittel der SPD-Wähler von 2013 haben diese auch 2018 gewählt.
- Die AfD konnte im Vergleich zur letzten Landtagswahl am stärksten die Nichtwählerinnen und -wähler mobilisieren.
Bislang über 21 000 Interviews
Im ersten Teilprojekt wurden rund 17 200 Exit Polls, also Nachwahlbefragungen, vor Wahllokalen in München (ca. 6 500 Interviews), Regensburg (6 200) und Passau (4 500) durchgeführt. "Die Wählerinnen und Wähler wurden nach der Wahl gezielt angesprochen und gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Alle Fragebögen wurden in einer versiegelten Urne gesammelt. So wurde sichergestellt, dass die oder der einzelne Befragte anonym bleibt", beschreibt Dr. Stefan Mang vom Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung der Universität Passau den Ablauf. "Die Daten selbst wurden erst nach Schließung der Wahllokale ausgewertet." Bei der Nachwahlbefragung werde strengstens darauf geachtet, dass die eigentliche Wahl nicht behindert oder beeinflusst wird. Die Teilnahme an der Befragung war freiwillig.
Das zweite Teilprojekt besteht aus einer bayernweiten Telefonbefragung vor und nach der Wahl, die ebenfalls vom Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung der Universität Passau vorgenommen wird. In der nun vorgelegten Auswertung wurden die vor dem Wahlsonntag erhobenen Daten aus rund 4 500 Telefon-Interviews systematisch mit den Ergebnissen der Exit Polls sowie den aggregierten Daten der amtlichen Wahlergebnisse auf Gemeinde- und Stimmbezirksebene kombiniert. "Der zweite Teil der Telefonbefragung sowie die ebenfalls laufende Online-Befragung runden die bisherigen Teilprojekte ab", so Stefan Mang. "Neben dem Wahlverhalten kann hier insbesondere der Meinungs- und Willensbildungsprozess bei der Wahlentscheidung nachvollzogen werden." Das finale Ergebnis aus allen Teilprojekten wird voraussichtlich Anfang Dezember vorliegen.
Das Gesamtprojekt versteht sich als Fortsetzung eines 2013 in München begonnenen Lehr-Forschungs-Projektes zur Landtags- und Bundestagswahl. Die damaligen Ergebnisse sind im Buch "Exit Polls und Hybrid-Modelle: Einer neuer Ansatz zur Modellierung von Wählerwanderungen" dokumentiert. "Es ist uns wichtig, dass unsere Methoden in diesem Projekt vollkommen transparent und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sind", erläutert Joachim Schnurbus. "Teil des Projektgedankens ist zudem, dass die Ergebnisse in der weiteren Forschung und Lehre zum Einsatz kommen und unser wissenschaftlicher Nachwuchs sowie unsere Studierenden von der Expertise aus drei Wissenschaftszweigen profitieren können."
Der Kern der interdisziplinären Forschungsgruppe besteht aus Prof. Dr. Thomas Knieper (Universität Passau, Lehrstuhl für Computervermittelte Kommunikation), Prof. Dr. Helmut Küchenhoff (LMU München; Statistisches Beratungslabor), Dr. Stefan Mang (Universität Passau, Institut für Markt- und Wirtschaftsforschung), PD Dr. Joachim Schnurbus (Universität Passau, Lehreinheit für Statistik), Prof. Dr. Paul W. Thurner (LMU München, Lehrstuhl für Empirische Politikforschung und Policy Analysis), Prof. Dr. Melanie Walter-Rogg (Universität Regensburg, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Methoden) sowie Prof. Dr. Harry Haupt (Universität Passau, Lehrstuhl für Statistik).
Das Projekt wird von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.