Das geopolitische Umfeld der Europäischen Union hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Die Herausforderung, effektiv auf die dynamischen sicherheitspolitischen Realitäten zu reagieren, sowie der Anspruch der EU, als globale Akteurin zu agieren, führen zu einer geopolitischen Wende in ihrer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine vertiefte deutsch-französische Zusammenarbeit in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wäre notwendiger denn je, doch das Verhältnis zu Frankreich gilt unter Bundeskanzler Olaf Scholz als abgekühlt.
„Ist der deutsch-französische Motor hirntot?“, fragte Moderatorin und Politologin Florence Ertel ihre Gesprächspartner aus Frankreich und Deutschland, Alexandre Vulic, Generalkonsul Frankreichs in München, und den Politikwissenschaftler Mathias Jopp, Senior Advisor International Programmes am Institut für Europäische Politik Berlin und Honorarprofessor an der Universität Passau. Sie waren Gäste einer öffentlichen Podiumsdiskussion in Form eines Round Table, die tatsächlich an einem runden Tisch im Senatssaal im Nikolakloster der Universität Passau stattfand. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Science Hub for Europe gemeinsam mit dem Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik, dessen Inhaber Prof. Dr. Daniel Göler die Gäste begrüßte.
Moderatorin Ertel spielte in ihrer Frage auf die Formulierung des französischen Präsidenten an, der 2019 die Nato als hirntot bezeichnet und die Bündnistreue zu den USA angesichts eines dort regierenden Donald Trump in Frage gestellt hatte. Die von Bundeskanzler Scholz kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgerufene Zeitenwende in der Außen- und Sicherheitspolitik sei eine Entwicklung, „die aus unserer Sicht sehr begrüßenswert ist“ sagte Generalkonsul Vulic. Er betonte, wie unverzichtbar Deutschland als Partner sei. „Wir brauchen eine neue Phase der Beziehungen, wir müssen über nukleare Abschreckung und auch über die Perspektive einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sprechen“, so der Generalkonsul. Beim deutschen Europapolitik-Experten Jopp rannte der Franzose damit „offene Türen“ ein. Die Lage Europas sei katastrophal. Es dränge mehr denn je, dass die Europäer ihre eigene Abschreckung entwickelten: „Der Aachener Vertrag muss endlich mit Leben gefüllt werden.“ Es gebe in Europa eine Sehnsucht nach dem deutsch-französischen Führungsduo. Doch von einer „strategischen Partnerschaft“ könne derzeit keine Rede sein, allenfalls von einem „muddling through“, einem Durchwurschteln, kritisierte der Politologe.
Deutsch-französisches Forschungsprojekt zur Geopolitik
Die Diskussionsrunde war Teil einer internationalen Tagung im Rahmen des interdisziplinären deutsch-französischen Forschungsprojekts „La France et L'Allemagne au retour de la géopolitique“, an dem neben Forschenden der Universität Passau auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Angers, Berlin, Bern, Budapest, Grenoble, Metz, Straßburg und Würzburg beteiligt waren. Gefördert wurde das Projekt vom Centre Interdisciplinaire d’Etudes et de Recherches sur L’Allemagne (CIERA). Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen Veränderungen im sicherheitspolitischen Diskurs in Frankreich und Deutschland angesichts der geopolitischen Wende in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU in den Blick. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Wahrnehmung von Geopolitik und welche Übereinstimmungen, Divergenzen oder gar Diskrepanzen es in beiden Ländern bei Entscheidungsträgerinnen und -trägern und in der Zivilgesellschaft gibt. Anhand konkreter Fallbeispiele – insbesondere im Kontext der Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 – analysieren die Forschenden die Wahrnehmung der Begriffe „Geopolitik“, „Europa als Macht“, „strategische Autonomie“, „strategische Souveränität“ oder „geopolitisches Europa“. Sie arbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Auffassung aktueller geopolitischer Herausforderungen in beiden Ländern heraus, um herauszufinden, inwieweit sich in diesen Bereichen gemeinsame Positionen auf EU-Ebene ergeben können.