Logo der Universität Passau

Mehr als nur Etikette: Anstandsbücher waren auch politische Medien

In den Jahrzehnten um 1900 hatten sogenannte Anstandsbücher Hochkonjunktur. Sie wurden vielerorts zur Vergewisserung über das richtige Verhalten in der Gesellschaft genutzt. Seit den 1970er Jahren sind diese Verhaltensratgeber Forschungsgegenstand in Soziologie, Ethnologie und Literaturwissenschaften. Die politische Dimension wurde dabei bisher ausgeblendet. Dr. Marc von Knorring, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau, beschäftigte sich in einem dreijährigen Forschungsprojekt mit der Frage, in welchem Maß sich Anstandsbücher zu politischen Fragen äußerten.

| Lesedauer: 2 Min.

Prof. Dr. Marc von Knorring, Foto: Barbara Weinert/Universität Passau

Prof. Dr. Marc von Knorring, Foto: Barbara Weinert/Universität Passau

Anstandsbücher waren zwischen 1870 und 1930 in Deutschland, Frankreich und Großbritannien politische Medien. Zu diesem Schluss kommt ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt unter der Leitung des Passauer Historikers Prof. Dr. Marc von Knorring. Trotz mangelhafter Bibliographien und gravierender Beschaffungsprobleme konnte der Wissenschaftler 204 Ausgaben von 106 zeitgenössischen Publikationen untersuchen, die inhaltlich unerwartet komplex ausfielen: „Sie erwiesen sich als Ratgeber für unterschiedlichste katholische und evangelische, konservative und liberale, regional begrenzte und übergreifende, auch generationenmäßig oder berufsständisch abgegrenzte, dabei nach außen defensiv-separierte oder selbstbewusst-offene Teilkulturen“, fasst von Knorring zusammen.

Als zentrales Kennzeichen der Etiketteliteratur sei festzuhalten, dass sie einerseits kleinere, konservative Soziokulturen, die durch Modernisierungstendenzen bedroht waren, bei Zusammenhalt und Selbstbehauptung unterstützte. Andererseits diente sie größeren, liberal bzw. „fortschrittlich“ orientierten Gesellschaftsformationen als Wegweiser durch die neuen Zeiten.

Die Urheberinnen- und Urheber- sowie Rezipientinnen- und Rezipientenseite konnte der Wissenschaftler aufgrund verschiedener Hemmnisse nicht archivalisch erforschen. Die Erschließung ihrer Absichten und Erwartungen mit Hilfe von Forschungsliteratur brachte dennoch bemerkenswerte Ergebnisse: Während in Deutschland Verleger und Autoren Benimmbücher vor allem aufgrund enger konfessioneller und parteipolitischer Bindungen gestalteten, waren die französischen Urheber zwiegespalten zwischen weltanschaulicher Treue und ökonomischen Erwägungen; letztere dominierten den britischen Markt, wo mancher Verlag mehrere, völlig unterschiedlich gefärbte Etikettebücher veröffentlichte. Nachgefragt wurden politische Anstandsbücher indessen überall, wobei das Publikum in Deutschland zumeist alteingeführte Werke bevorzugte und angepasste Neuauflagen erwartete. In Großbritannien dagegen wollte man allem Anschein nach überwiegend ältere durch neue, weltanschaulich kompatible Werke ersetzt sehen. In Frankreich wiederum nahmen die Rezipientinnen und Rezipienten eine Mittelposition ein.

Politische Etikettebücher wurden also offenbar zielgerichtet angeboten und gekauft. Damit kann das Massenmedium Anstandsliteratur als Ergänzung zu genuiner Weltanschauungsliteratur für diverse „Milieus“ eingeordnet werden, als Teil einer „Säule“ neben der Tagespresse. „Das Bild der politischen Medien um 1900 und ihrer soziopolitischen Funktion wird so um einen wesentlichen, bislang unbekannten Aspekt bereichert“, zeigt sich Marc von Knorring zufrieden.

Kontakt

Referat für Medienarbeit

Rückfragen zu dieser Pressemitteilung richten Sie bitte an:

Nicola Jacobi und Barbara Weinert
Tel.: +49 851 509-1434, -1450
kommunikation@uni-passau.de

Ich bin damit einverstanden, dass beim Abspielen des Videos eine Verbindung zum Server von Vimeo hergestellt wird und dabei personenbezogenen Daten (z.B. Ihre IP-Adresse) übermittelt werden.
Ich bin damit einverstanden, dass beim Abspielen des Videos eine Verbindung zum Server von YouTube hergestellt wird und dabei personenbezogenen Daten (z.B. Ihre IP-Adresse) übermittelt werden.
Video anzeigen