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Erzählung, Erwartung, Erfahrung: Behinderung im zeitgenössischen europäischen Theater und Film

Er kommt alleine nicht durch den Alltag, zugleich besitzt er geniale Begabungen, die ihn zur Inspiration für seine Mitmenschen machen: Raymond Babbit alias „Rain Man“, Protagonist des gleichnamigen Filmdramas aus dem Jahr 1988, gehört zu den international bekanntesten Filmfiguren mit Behinderung – gespielt wurde er allerdings von Dustin Hoffman, einem Schauspieler ohne Behinderung. In dieser Hinsicht hat sich in Film und Theater einiges gewandelt: Figuren mit Behinderung werden immer häufiger mit tatsächlich beeinträchtigten Personen besetzt. Welche Rolle insbesondere Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in Theater und Film spielen, ist dennoch ein kaum erforschtes Thema. Ein internationales Team unter Leitung von Prof. Dr. Susanne Hartwig (Universität Passau) möchte das ändern. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt für eine Dauer von 36 Monaten mit rund 460.000 Euro.

| Lesedauer: 4 Min.

In drei Teilprojekten analysieren Prof. Dr. Susanne Hartwig (Passau), Elena Ecudero (Madrid) und Dr. Soledad Pereyra (Buenos Aires) Theateraufführungen und Filme, an denen Menschen mit realen kognitiven Beeinträchtigungen mitwirken. Das Ziel: Eine systematische Erfassung und Analyse als Grundlage für ein genaueres Bild, wie kognitive Beeinträchtigung im Theater und im Film nicht nur in der Handlung, sondern auch auf der Ebene von Verhaltenserwartungen und emotionalen Erfahrungen dargestellt wird. „Dieses Bild soll die Diversitätskategorie ‚Behinderung‘ genauer beschreibbar machen, insbesondere in den Punkten, in denen sie sich von anderen Diversitätskategorien signifikant unterscheidet“, sagt Hartwig. „Und wir streben an, aus unseren Ergebnissen allgemeine Aussagen über Inklusion im Medium Theater und im Medium Film abzuleiten.“

Passauer Ansatz betritt Neuland in der kulturwissenschaftlichen Forschung zu Behinderung

Mit dem Fokus auf kognitiver Beeinträchtigung widmet sich das Team einem noch kaum beforschten Gebiet auf der Landkarte der Disability Studies. Diese sind als Forschungsrichtung in der Soziologie und in den Erziehungswissenschaften zwar schon länger verankert, doch der Passauer Ansatz, aus einer Perspektive der Kommunikations-, Kognitions- und Emotionsforschung heraus an das Thema heranzugehen, ist – ebenso wie der europäische Fokus – neu. Schwerpunktmäßig geraten Produktionen aus Spanien, Frankreich und Italien der letzten 30 Jahre ins Blickfeld, aber auch international anerkannte inklusive Theater und Filmproduktionen aus anderen Ländern wie Deutschland oder der Schweiz werden intensiv analysiert.

„Innerhalb der Disability Studies sind differenztheoretische Ansätze die Regel, die sich auf Machtdiskurse und wirkmächtige Unterscheidungen konzentrieren“, erläutert Hartwig. „Unser Beschreibungsmodell versteht sich als komplementär dazu. Wir wollen konkrete Ebenen und Mechanismen von Kommunikation in den Blick nehmen, die in Theaterstücken und Filmen wirksam sind, aber auch unterlaufen werden können.“ Dabei ist insbesondere der Umgang der Texte mit eingefahrenen Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlmustern von Interesse. „Diese sind die Bedingungen von Inklusion auch im künstlerischen Prozess, aber der künstlerische Prozess kann mit ihnen freier umgehen als z.B. soziale Institutionen.“ Um Potential und Wirkung der beiden audiovisuellen Gattungen zu untersuchen, nehmen die Forscherinnen dabei auch an Probenprozessen teil und befragen Zuschauerinnen und Zuschauer nach ihren Eindrücken.

Theater und Film: Spiegel und Türöffner für den sozialen Umgang mit Behinderung

Von besonderem Interesse sind für die Wissenschaftlerinnen die Schlüsselwörter Ambivalenz, Kontingenz, Komik und Spiel. „Wir fragen allgemein nach dem Erkenntnisgewinn unserer Analysen für Kernthemen der Disability Studies, insbesondere nach der Bedeutung von Ambivalenz im sozialen Umgang mit Behinderung“, so Hartwig. Dabei sollen auch medienspezifische Möglichkeiten der Texte ins Blickfeld gelangen, etwa die Unmittelbarkeit der Bühnensituation oder die Schnitt- und Montagetechnik des Films.

„Gesellschaftlich ist Behinderung etwas, worüber wir nicht so gerne nachdenken – obwohl diese jeden und jede von uns jederzeit treffen kann“, hebt Hartwig hervor. „Oft ist es gar nicht die Behinderung an sich, die beeinträchtigt, sondern die Einschränkung gesellschaftlicher Teilhabe, die sie für die Betroffenen bedeutet.“ Theater und Film seien sehr gut geeignet, um für das ansonsten häufig vermiedene Thema zu sensibilisieren: „Die Schemata unseres normalen Alltags sind in fiktionalen Welten dehnbarer. Wir können dort leichter umdenken und uns auf Neues einlassen.“

Sich mit der Durchbrechung von Mustern auseinanderzusetzen heißt auch, gegen zahlreiche Stereotype anzudenken. „Wir finden sehr häufig schablonenhafte Rollen wie den drolligen Narren, den hochbegabten und in sich gekehrten Autisten oder auch die traurige Gestalt, die an der Welt verzweifelt.“ Ebenso häufig: Das Vorurteil, dass Produktionen mit kognitiv beeinträchtigten Mitwirkenden keine ernstzunehmenden künstlerischen Produkte seien. „Ich habe Theateraufführungen und Filme erlebt, die ohne Berücksichtigung der kognitiven Beeinträchtigung künstlerisch in jeder Hinsicht überzeugen und bei denen dennoch die Tatsache, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Schauspieler*innen sind, einen ‚politischen‘ Mehrwert erzeugt. Diese Ansätze sind aus meiner Sicht diejenigen, die Maßstäbe setzen. Wie sie das machen, welchen neuen Typ von Inklusion wir dort finden und warum sie eine besondere Wirkung entfalten – das versuchen wir herauszufinden.“

Kontakt

Referat für Medienarbeit

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Nicola Jacobi und Barbara Weinert
Tel.: +49 851 509-1434, -1450
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