Anstandsbücher waren zwischen 1870 und 1930 in Deutschland, Frankreich und Großbritannien politische Medien. Zu diesem Schluss kommt ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt unter der Leitung des Passauer Historikers Prof. Dr. Marc von Knorring. Trotz mangelhafter Bibliographien und gravierender Beschaffungsprobleme konnte der Wissenschaftler 204 Ausgaben von 106 zeitgenössischen Publikationen untersuchen, die inhaltlich unerwartet komplex ausfielen: „Sie erwiesen sich als Ratgeber für unterschiedlichste katholische und evangelische, konservative und liberale, regional begrenzte und übergreifende, auch generationenmäßig oder berufsständisch abgegrenzte, dabei nach außen defensiv-separierte oder selbstbewusst-offene Teilkulturen“, fasst von Knorring zusammen.
Als zentrales Kennzeichen der Etiketteliteratur sei festzuhalten, dass sie einerseits kleinere, konservative Soziokulturen, die durch Modernisierungstendenzen bedroht waren, bei Zusammenhalt und Selbstbehauptung unterstützte. Andererseits diente sie größeren, liberal bzw. „fortschrittlich“ orientierten Gesellschaftsformationen als Wegweiser durch die neuen Zeiten.
Die Urheberinnen- und Urheber- sowie Rezipientinnen- und Rezipientenseite konnte der Wissenschaftler aufgrund verschiedener Hemmnisse nicht archivalisch erforschen. Die Erschließung ihrer Absichten und Erwartungen mit Hilfe von Forschungsliteratur brachte dennoch bemerkenswerte Ergebnisse: Während in Deutschland Verleger und Autoren Benimmbücher vor allem aufgrund enger konfessioneller und parteipolitischer Bindungen gestalteten, waren die französischen Urheber zwiegespalten zwischen weltanschaulicher Treue und ökonomischen Erwägungen; letztere dominierten den britischen Markt, wo mancher Verlag mehrere, völlig unterschiedlich gefärbte Etikettebücher veröffentlichte. Nachgefragt wurden politische Anstandsbücher indessen überall, wobei das Publikum in Deutschland zumeist alteingeführte Werke bevorzugte und angepasste Neuauflagen erwartete. In Großbritannien dagegen wollte man allem Anschein nach überwiegend ältere durch neue, weltanschaulich kompatible Werke ersetzt sehen. In Frankreich wiederum nahmen die Rezipientinnen und Rezipienten eine Mittelposition ein.
Politische Etikettebücher wurden also offenbar zielgerichtet angeboten und gekauft. Damit kann das Massenmedium Anstandsliteratur als Ergänzung zu genuiner Weltanschauungsliteratur für diverse „Milieus“ eingeordnet werden, als Teil einer „Säule“ neben der Tagespresse. „Das Bild der politischen Medien um 1900 und ihrer soziopolitischen Funktion wird so um einen wesentlichen, bislang unbekannten Aspekt bereichert“, zeigt sich Marc von Knorring zufrieden.