Facts first: MBSR entstand in den späten 70er Jahren an der Stress-Reduction-Clinic in Massachusetts unter dem Molekularbiologen Dr. Jon Kabat-Zinn. „Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen“, proklamiert der noch heute und meint damit vor allem den reflektierten Umgang mit Stress. Negative, positive und neutrale Erlebnisse seien nur eine Folge von Augenblicken, in die wir entweder emotional eintauchen und uns verlieren können. Oder, nach Kabat-Zinn, die wir objektiv betrachten und uns so bewusst für Erfahrungen entscheiden können. Der MBSR-Ansatz umfasst ein achtwöchiges Programm, das verschiedene Achtsamkeitsübungen und Ansätze aus Hatha Yoga, Vipassana und Zen-Buddhismus aufgreift.
Was da eigentlich so passiert
Das Seminar findet im Bauch der Kirche des Nikolaklosters statt. Tief runter unter die Erde geht es, abseits des Uni-Trubels und immer weiter weg von der Außenwelt, an einen sicheren Rückzugsort. Im Vorgespräch betonte Dr. Florian Seidl, dass das Seminar ein Safe Space sei. Niemand muss, aber jeder darf – egal ob erzählen, mitmachen, Emotionen zeigen. Nichts was passiert, verlässt den Raum, und es herrscht ein stilles Einverständnis unter uns Teilnehmenden, dass auch uns das so gut passt. Mir hat mein Therapeut gesagt, dass MBSR eine gute Idee wäre, quasi als Gegenmaßnahme zu meinem eigenen Ungleichgewicht zwischen emotionalem Treibenlassen und analytischem Denken. Das hier zu erzählen ist meine Entscheidung, ohne diese Info müsste ich diesen Beitrag aber auch sehr oberflächlich halten. Will ich aber nicht. Weil’s wichtig ist, mehr über solche Themen zu sprechen. #LetsTalkAboutMentalHealth und so.
Wir beginnen das Seminar mit der sogenannten Rosinenübung. Die kennen viele schon, und ist ganz schnell erklärt: Alle bekommen eine Rosine, und anstatt sie schnell zu essen, wird das schrumpelige Obst zuerst intensiv befühlt, berochen und belauscht. Erst dann geht’s ab in den Mund und wir reflektieren in der Gruppe alle Sinneseindrücke, die wir erfahren haben. Wir sprechen viel über die Gegenwärtigkeit und Abwesenheit von solch achtsamem Verhalten in unserem Alltag und schließen mit einem 30-minütigen Bodyscan die erste Sitzung. Ganz still liegen und der Reihe nach in jedes Körperteil hineinfühlen. Bis zur nächsten Sitzung gibt Florian Seidl als Hausaufgabe, den Bodyscan täglich zu üben. In der zweiten Sitzung erweitert sich das Spektrum der Übungen um eine Sitzmeditation. 15 bis 20 Minuten absolute Konzentration auf den Atem, mit offenen Augen, aber ohne Tunnelblick, sondern alles registrierend. Nichts verlieren, aber auch nichts beherrschen wollen. Die Sitzmeditation ergänzt den Bodyscan als Hausaufgabe. Außerdem soll bis zur dritten Sitzung eine Tabelle ausgefüllt werden, mit allen schönen Erlebnissen, die uns wiederfahren sind. In der dritten Sitzung diskutieren wir unsere Notizen und machen ein wenig Yoga. Bis wir uns Mitte Dezember zur vierten Sitzung wiedersehen, haben wir alle unschönen Erlebnisse notiert und sprechen im Seminar darüber. Wir praktizieren Yoga und Qi Gong. Unser Soll an Hausaufgaben ist mittlerweile gewachsen, und umfasst abwechselnd Bodyscans, Meditationen, Körperübungen, Schreibarbeit und Lektüre. Bald ist Weihnachten, wir haben fast vier Wochen Pause und ich denke zurück an die letzten zwei Monate.
Motivation vs. Machbarkeit
Warum ich das Seminar besuche? Klar, man hat’s mir nahegelegt. Zu viel Kopf, zu wenig Herz, zu viel Hektik, zu wenig Wertschätzung. Aber die Teilnahme nur auf mein eigenes Wohlbefinden und meine persönliche Entwicklung zu reduzieren, wäre nicht gerecht. MBSR kann auch offensichtlichere Umstände zur Folge haben, die nicht so sehr innen spürbar, sondern außen sichtbar sind. Ich spüre eine eindringlichere Rücksicht im alltäglichen Umgang mit Menschen, urteile nicht mehr so schnell und erlebe mich empathischer und herzlicher als noch vor zwei Monaten. Gleichzeitig ist die Arbeit mit mir selbst knüppelhart. Die gleichen Charakteristika, die mir eh schon Probleme bereitet haben, halten mich natürlich mit Macht davon ab, bewusst achtsamer und reflektierter zu sein. Ich mache meine Hausaufgaben unregelmäßig, oft ertappe ich mich bei einem „Dafür hab ich grade echt keine Zeit“. Vielleicht liegt aber auch darin ein Fortschritt. Ich denke, kleine Schritte sind auch okay. Gute und schlechte Erfahrungen gehören dazu, das weiß ich jetzt. Wir haben negative Erlebnisse zum Beispiel nicht notiert, um uns intensiv damit zu beschäftigen, sondern um wahrzunehmen, dass es negative Erlebnisse gibt, und zu lernen, wie wir in bestimmten Situationen reagieren. Mich dabei zu ertappen, wie ich schlampig arbeite, ist so gesehen doch schon mal was. Den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern geht es da häufig nicht anders – ganz egal, ob sie schon Vorerfahrung mit Achtsamkeitstraining haben, oder, so wie ich, absolute Laien sind.
Alltag der zwei Geschwindigkeiten
Dr. Florian Seidl ist ein Wahnsinns-Typ. Tiefenentspannt bis in die Haarspitzen sitzt er im Lotussitz im Seminar und leitet an. Der Mann hat die Ruhe echt gepachtet, denke ich, als er Anekdoten aus seinem privaten und beruflichen Leben erzählt. Achtsamkeit bedeutet für ihn persönlich, die Fähigkeit, einen klaren Blick zu bewahren, perfekt in seinen Alltag integrieren zu können. Schlechte Nachrichten vom Arzt? Ruhig durchatmen, und in Relation setzen. Ich merke bei mir, dass ich nach zwei Monaten noch immer ganz weit weg bin, diese Fähigkeit zu beherrschen, immer irgendwie zweigeteilt lebe. Es gibt mich als Studenten, der fast jeden Tag in der Bib sitzt und arbeitet. Und es gibt mich während der Meditation, zu Hause oder im Seminar, wenn ich mir mal die Zeit gönne, durchzuatmen und zu reflektieren. Ideal wäre, diese Ruhe und Gelassenheit mit in die Bib zu nehmen und mit mir im Reinen meine Masterarbeit zu planen. Aktuell ist mein Alltag aber noch zu wenig synchronisiert, Entspannungsphasen und Arbeitsphasen sind noch entkoppelt. Noch laufen zwei Bewusstseinszustände mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten hintereinander her, und ziehen sich bei Pannen gegenseitig aus dem Dreck.
Durchatmen, und ins Verhältnis setzen: es geht voran! Ich freue mich auf die nächsten zwei Monate.