Mein Name ist Bastian, ich bin 29 Jahre alt und studiere im achten Semester European Studies an der Universität Passau. In den sieben Semestern zuvor hatte ich viele spannende Vorlesungen und Seminare besucht, war in der Hochschulgruppenarbeit aufgegangen und hatte in Passau eine wundervolle Zeit verlebt. Der Auslandsaufenthalt war als Höhepunkt dieser Zeit gedacht, in der ich viele theoretische Inhalte in die Praxis umsetzen und das Leben im europäischen Ausland für mich erproben wollte. Nach langem Überlegen und einem halben Dutzend Bewerbungen entschied ich mich gegen ein Praktikum an einer etablierten Institution und für ein Start-up in Kopenhagen, das Natural Foods aus Chile vertreibt. Ich tat dies, weil mich die Gründerszene sehr fasziniert und ich unbedingt einen Einblick in eine Firma haben wollte, die sich am Anfang ihres Lebenszyklus befindet. Mit großer Neugier wollte ich die kleineren und größeren Schritte verfolgen, die nötig sind, um ein Unternehmen und ein Produkt am Markt zu etablieren.
Die ersten Wochen im Praktikum
Anfang März war ich in Kopenhagen eingetroffen, kaum nervös, sondern voller Tatendrang. Ein gemeinsamer Kochabend mit dem CEO und Kolleginnen und Kollegen brach das Eis sehr schnell und ich konnte mich ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Die Firma war in einem Workspace in Frederiksberg untergebracht, einer autonomen Gemeinde mitten im Herzen der dänischen Hauptstadt. Dort tummeln sich Kreative, Gründerinnen und Gründer, sowie wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um an verschiedenen Projekten, Start-ups und Unternehmen zu arbeiten. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein so spannendes, kreatives und leidenschaftliches Umfeld vorgefunden. Meine Arbeit im Marketingbereich machte mir sehr viel Spaß und ich wurde zudem durch meine Kolleginnen und Kollegen beflügelt, weil sie mir stets auf Augenhöhe begegneten. Ich nutzte die ersten freien Tage und streifte ausgiebig durch die Innenstadt und weitere Kopenhagener Stadtteile. Dabei ließ ich bewusst einige Highlights wie den Tivoli, Christiania oder Schloss Amalienborg aus. Dafür, dachte ich, hatte ich ja bestimmt noch Zeit genug.
Kopenhagen am Vorabend der COVID-19-Pandemie
Kopenhagen schien in düsteren Krisenzeiten eine Insel der Glückseligkeit zu sein. Denn während die deutschen Nachrichten bereits voll unheilschwangerer Meldungen über die Ausbreitung des Coronavirus waren, zogen hier tausende Touristinnen und Touristen aus aller Welt über den weltberühmten Nyhavn, und vor der Kleinen Meerjungfrau an der Uferpromenade bildete sich täglich die obligatorische Menschentraube. Die COVID-19-Pandemie war im alltäglichen Leben nur marginal bemerkbar: An Metrostationen und im nahen Einkaufszentrum von Frederiksberg wurden Desinfektionsstationen aufgestellt und erste Abstandsregelungen erläutert, welche aber in den vollen Bussen und Bahnen wenig ernst genommen wurden. Mit einer Freundin, die ihr Praktikum im Süden Dänemarks gerade beendet hatte, streifte ich durch die lebendigen Straßen der Stadt und besuchte randvolle Restaurants und Bars. Nichts deutete drauf hin, dass das pulsierende soziale Leben bald zu einem Stopp kommen könnte. Umso normaler sich das Leben in Kopenhagen im Vergleich zu weiten Teilen Europas bis Mitte März gestaltete, umso heftiger war die plötzliche Ausgangssperre, die zum Ende meiner dritten Praktikumswoche verkündet wurde. Alle öffentlichen Einrichtungen wurden ebenso geschlossen wie mein Workspace. Der ÖPNV fuhr nur noch unregelmäßig und im Supermarkt um die Ecke herrschte ein Chaos, welches ich bisher noch nicht einmal bei einer Verteilung der Campustüten erlebt habe. Das Klima der Angst war trotz vorder-gründiger dänischer Gelassenheit überall spürbar.
Dadurch wurde mir praktisch jegliche Grundlage zur Durchführung eines angenehmen und erfolgreichen Praktikums entzogen. Nach regem Meinungsaustausch mit meiner Familie, der Universität Passau und meinem Chef entschied ich mich ganz objektiv dafür, dass eine Rückreise nach Hause und eine Fortführung des Praktikums von dort die einzig vernünftige Option war. Einen großen Anteil an meiner Entscheidung hatten die regelmäßigen Updates und Rücksprachen mit dem Zukunft: Karriere und Kompetenzen, sowie der Studiengangskoordination der philosophischen Fakultät, die mir immer das Gefühl gaben, sofort über den aktuellen Stand informiert zu werden.
Die Arbeit im Home-Office
Zwei Drittel meiner Praktikumszeit absolviere ich nun also aus dem Home-Office. Ich habe hierbei das große Glück, dass meine Aufgabenbereiche (Social Media-Marketing, Kundenbetreuung, PR etc.) problemlos digital zu erledigen sind und sich durch die Pandemie auch sonst keine gravierenden Auswirkungen auf die Vermarktung unserer Produkte ergeben. Die Meetings und Besprechungen mit Kolleginnen und Kollegen finden via Videokonferenzen über Microsoft Teams statt und Apps wie Dropbox erlauben es uns, die Dateien für unsere Projekte auszutauschen. Derzeit arbeite ich wahrscheinlich noch mehr als in Kopenhagen und habe mich mit der außergewöhnlichen Situation in altbekannter Umgebung arrangiert. Dennoch erwische ich mich ab und an bei dem Gedanken, einfach um die Ecke zum Busbahnhof gehen zu wollen und mit dem Bus ins Zentrum von Frederiksberg zu fahren oder mit der S-Bahn direkt in die Kopenhagener Innstadt, um in den malerischen Straßen herumzuschlendern. Krachend lande ich in der Realität des bayerischen Hinterlandes und begnüge mich stattdessen mit einer Joggingrunde über die ausgedehnten Felder und Wälder hinter unserem Haus. Natürlich verspüre ich dabei ein wenig Sehnsucht und Wehmut, aber keine Bitterkeit. Denn das Wichtigste ist nach wie vor, dass wir alle gesund bleiben. Dann wird es für mich in Zukunft bestimmt auch ein Wiedersehen mit Kopenhagen geben.