Ilg, Paul
Thema: Altenhilfe, Gemeinschaft, Krankheit, Lebensbewältigung, Tod
M1: PNP, 30.08.2023, Nr. 199, S. 21
Demenz: Ein Abschied auf Raten
Paul Ilg hat seine Frau fünf Jahre lang gepflegt – Mit seiner Selbsthilfegruppe möchte er anderen Betroffenen Mut machen
PNP 199 / 30.8.2023, 21
Von Johannes Munzinger
Der Kampf gegen die Demenz ist grausam und unfair, denn der Ausgang steht von vornherein fest. Es gibt kein Entrinnen. Der Erkrankte wird Schritt für Schritt aus der Welt verschwinden, mehr und mehr eingesperrt in einen Körper, dessen Schaltzentrale den Dienst versagt. Es ist ein einsamer Alptraum – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für pflegende Angehörige. Paul Ilg hat seine demente Frau Erika fünf Jahre lang zu Hause gepflegt. Der heute 84-jährige will anderen pflegenden Angehörigen Hoffnung und Mut machen. Deshalb hat er die Selbsthilfegruppe „Du bist nicht allein“ gegründet.
Es gab ihn nicht, den einen Moment, in dem die Demenz plötzlich da ist, sagt Paul Ilg. „Das ist nicht wie bei einem gebrochenen Bein. Das geht langsam und schleichend.“ Wie lange seine Erika an der Demenz gelitten hat, könne niemand genau sagen. „Die Wissenschaft sagt: Wenn die Demenz in Erscheinung tritt, steckte sie schon Jahre im Menschen drin, ohne dass man sie wahrnimmt. Oder besser gesagt: Wahrnehmen will.“
Erika ließ langsam nach. Das Kochen oder Arbeiten im Haushalt klappten nicht mehr so recht, soziale Kontakte schliefen ein, weil die Unterhaltungen ihr Probleme machten. „Da sagt man zuerst: Du wirst halt alt. Man schiebt es von sich. Und die Betroffenen wollen ihre Defizite kaschieren.“
Um das Jahr 2011 war nicht mehr zu leugnen, dass etwas nicht stimmt. Erika ließ sich untersuchen. „Dann wurde diagnostiziert, was ich eigentlich schon wusste“, erinnert sich Paul Ilg.
Es gibt verschiedene Arten der Krankheit. Erika Ilgs genaue Diagnose lautete: frontaltemporale Demenz. „Bei meiner Frau waren also vor allem das Vorderhirn und die Schläfenlappen betroffen, wo auch das Sprachzentrum liegt“, erklärt Paul Ilg.
Das Ehepaar war nun in einer letztendlich aussichtslosen Situation. „Das Schlimme ist, dass man nicht sagen kann: Das wird schon wieder. Auch wenn man sich an alles klammert: Vermeiden, Zurückdrängen oder gar Heilung ist unmöglich. Es wird immer schlechter. Da darf man sich nichts vormachen. Es ist ein Abschied auf Raten.“
In einer Hinsicht hatten Paul Ilg und seine Frau Glück, sagt er heute. Erika sei ihr Leben lang umgänglich und friedlich gewesen, „und das blieb sie zum Glück auch“.
Das ist nicht immer so. „Demenz bedeutet immer eine Wesensveränderung“, sagt Paul Ilg. „Manche, die immer robust und ausgeglichen waren, werden plötzlich aggressiv.“ Wäre seine Frau aggressiv und damit eine Gefahr für sich selbst und ihren Mann geworden, hätte er sie nicht daheim pflegen können.
„Schlechtes Gewissen ist nicht gerechtfertigt“
Ilgs erster Ratschlag lautet: „Wenn es unumgänglich ist, dass der Kranke in eine Einrichtung kommt, sollte man sich nicht schuldig fühlen und glauben, dass man seinen Angehörigen kaltherzig abgeschoben hat. Das schlechte Gewissen ist verständlich, aber nicht gerechtfertigt.“
In den Jahren nach der Diagnose baute Erika mehr und mehr ab. „Die Steuerung im Gehirn lässt immer mehr nach. Da werden Dinge nicht mehr gesteuert, die sehr intim und belastend sind. Ein Beispiel ist Inkontinenz. Die Motorik leidet, meine Frau war dann auch auf den Rollstuhl und alle möglichen Gerätschaften angewiesen. Anziehen, Waschen, man muss nicht alles aufzählen, was damit verbunden ist... und irgendwann konnte sie auch nicht mehr sprechen.“
Mit dem Verlust der Selbstständigkeit kommt bei den Erkrankten die Angst, berichtet Paul Ilg. „Wie bei einem kleinen Kind, das auf die Mutter fixiert ist. Wenn die Mama nicht da ist, kriegt das Kind Angst und schreit. Die meisten Dementen schreien aber nicht, obwohl sie sich schrecklich fürchten. “ Da sich viele Demenzkranke im späteren Stadium kaum noch artikulieren können, ist es wichtig, diese Angst erkennen und deuten zu lernen. „Und dann muss man sie reduzieren. Dafür muss man wahnsinnig geduldig sein, was sich leicht sagt, aber sehr schwer ist.“ Wichtig sei vor allem körperliche Nähe: eine gehaltene Hand, ein sanftes Streicheln, eine Umarmung helfen, damit sich der Kranke merkt, dass er nicht alleine ist.
Natürlich sei es nicht möglich, jeden Tag 24 Stunden beim Erkrankten zu sein. Davon rät er auch eindringlich ab. „Man sollte seine ehrenamtlichen Tätigkeiten und Hobbys auf keinen Fall aufgeben, auch wenn es zeitlich schwerfällt.“
Viele machten zudem den Fehler,die Kranken zu verstecken und zu isolieren. „Dabei sind soziale Kontakte enorm wichtig, sie können die Demenz verlangsamen.“ Er selbst habe seine Frau solange es ging konsequent zu Ausflügen und in die Kirche mitgenommen. „Sie konnte noch alle Lieder in der Kirche mitsingen, obwohl sie sich kaum noch artikulieren konnte. Musik ist ein toller Schlüssel zu den Erinnerungen.“
„Ich rate allen Pflegenden: Überwindet euch!“
Sogar einen Englischkurs hat Erika mit ihrem Mann noch besucht. „Es war egal, ob sie dort was lernt. Darum ging es nicht. Es ging darum, dass sie immer unter Leuten war. Wir haben die Krankheit nicht verborgen. Und hinter der Krankheit steckt noch immer ein Mensch, auch wenn er sich verändert hat. Ich rate allen Pflegenden: Überwindet euch!“
Bis zuletzt bemühte sich Paul Ilg, seine Frau zu beschäftigen. Erika war eine talentierte Malerin, sie hat Türen und Schränke im Haus mit Heiligenbildern und Blumen verziert. Im Spätstadium gab Paul seiner Frau ein Schuhkästchen zum Bemalen. Die Blumen und Vasen darauf sind erkennbar, wirken aber, als hätte ein Kind sie gemalt. Kein Vergleich zu den Kunstwerken, die sie früher schuf. Das Kästchen steht heute im Flur, es ist einer der größten Schätze, die Paul Ilg besitzt.
2016 starb Erika in den Armen ihres Ehemanns.
Viele berichten, dass der Tod nach jahrelanger Pflege einer beiderseitigen Erlösung gleichkomme. „So war es bei mir nicht. Es war schlimm. Ich habe Erika immer gesagt: ,Hauptsache, du bist noch da.‘ Und sie war wirklich bis zuletzt bei mir.“ Mittlerweile habe seine Trauer sich in Dankbarkeit gewandelt. „Wir haben 55 Jahre lang eine glückliche Ehe geführt, sehr viel unternommen. Ich habe so viele schöne Erinnerungen an meine Frau. Sie ist bis heute präsent.“
Hat Paul Ilg Angst, selber dement zu werden? Die Frage bringt ihn zum Schmunzeln: „Ich werde auch älter und habe so manche Erinnerungsdefizite. Aber diese Angst habe ich längst abgelegt. Weil sie sinnlos ist. Wenn ich Angst vorm Zahnarzt habe, heißt das ja auch nicht, dass ich deshalb nicht zum Zahnarzt gehen muss.“
Zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau gründete Paul Ilg die Selbsthilfegruppe „Du bist nicht allein“. Er wählte den Namen, weil er sich selbst oft einsam gefühlt habe: „Ich habe mir in diesen fünf Jahren oft gedacht: Wenn es eine Gruppe für den Austausch mit Gleichgesinnten gäbe, würde mir das wahrscheinlich helfen.“
Regelmäßig organisiert Paul Ilg Treffen für Betroffene. Das nächste Treffen findet im Rahmen der Bayerischen Demenzwoche am Donnerstag, 14. September, ab 18 Uhr im Pfarrheim Salzweg statt. „Dafür konnte ich den Freyunger Neurologen und Chefarzt Dr. Thomas Motzek-Noé gewinnen. Er wird erklären, was sich hinter der Krankheit verbergen kann.“
Paul Ilgs Hauptziel: „Demenz soll als Krankheit verstanden werden, nicht als Makel. Ich wünsche mir mehr Akzeptanz in der Bevölkerung, um Verständnis für die Kranken und Pflegenden. Und in der Gruppe geht es darum, wie man helfend eingreifen kann. ,Hilfe‘ bedeutet dabei zunächst auch ,Mut‘. Der Sinn ist es, sich gegenseitig zu stärken. Alleine schon das Reden über die Krankheit mit Gleichgesinnten kann eine große Hilfe sein.“
Die Selbsthilfegruppe „Du bist nicht allein“ steht allen offen, eine Anmeldung ist nicht nötig. Die Termine veröffentlicht Paul Ilg regelmäßig in der PNP. Interessierte und Betroffene können unter ✆0851 41120 mit ihm in Kontakt treten.
M2: Bild von Johannes Munzinger
M3: Didaktische Impulse
1. Untersucht, wie Paul Ilg mit der Krankheit seiner Frau umgegangen ist.
2. Kennt ihr selbst jemanden, der von einer solchen Krankheit betroffen ist? Tauscht euch mit einem Partner darüber aus.
3. Gibt es in eurer eigenen Umgebung Möglichkeiten, in diesem Bereich aktiv zu werden und euch zu engagieren?