Marion Winter schlug Tier in die Flucht – Sie bekommt heute die Bayerische Rettungsmedaille von Ministerpräsident Horst Seehofer
von Monika Bormeth
Zum Beispiel Marion Winter: Die 41-Jährige aus Holzham (Lkr. Rottal-Inn) schlug vor einem Jahr einen wilden Stier mit einer Eisenstange in die Flucht.
Dass ihn sein handaufgezogenes Tier einmal zum Stierkampf zwingen würde, hätte sich Lutz Wudke (43) nicht träumen lassen. Zwar hat der Veterinäringenieur schon seit jeher einen "kleinen Rinderknall", wie er sagt, doch musste er sich mit den Tieren nie duellieren. "Rinderzucht ist mein Hobby", erzählt Wudke. "Der Theo war ein Prachtkerl und fast immer brav." − "Ja, bis er dich über den Weideboden geschleift hat", meldet sich Marion Winter zu Wort. Sie deutet zu einem der Fenster im oberen Stockwerk ihres Holzhauses hinauf. "Dort oben stand ich und hab den Angriff sehen müssen." Dann sei sie losgerannt − intuitiv.
Intuition ist Winters Stärke. Manchmal wittere sie Gefahren, wie an einem Nachmittag Ende Juli vergangenen Jahres. Ihr Lebensgefährte wollte Stier Theo in einen anderen Teil der Koppel treiben. Eigentlich ein alltägliches Unterfangen − doch der Stier hatte keinen Bock, wie Wudke meint. "Theo war an dem Tag auf Randale gebürstet. Da ging nichts mit gut zureden. Also hab ich einen Strick geholt, um ihn zu führen." Auch eine Eisenstange nahm er mit, um sie vor dem 400 Kilo schweren Stier in die Erde zu stecken und so eine Trennlinie zu signalisieren. Marion Winter war im Haus und verspürte plötzlich den Drang, nach ihrem Mann zu sehen. Sie rannte hoch in das Zimmer der Tochter. Vom Fenster aus konnte sie die Koppel überblicken.
"Mein erster Gedanke: Jetzt ist's vorbei"Es war nur eine winzige Handlung, die den zweijährigen Theo rasend machte. Lutz Wudke ließ den Strick zu Boden fallen, dachte nicht nach, bückte sich. Auf Augenhöhe mit seinem Besitzer muss in Theo ein für Wudke lebensbedrohlicher Kampfgeist erwacht sein: Der Stier schubste Wudke mit dem Kopf zu Boden, schleifte ihn über das Gras, stieß ihm die Hörner in Bauch und Oberschenkel. Todesangst hatte er, schildert Wudke: "Jetzt ist's vorbei − das war mein erster Gedanke." Der zweite war, Theo an seiner empfindlichsten Stelle zu packen − am Auge. "Ich hab den Augapfel so richtig umkrallt. Klingt gruselig, hat aber ein wenig geholfen."
Gerettet hätte Wudke sich dadurch nicht. Erst seine Frau kann ihn aus der Gewalt des Stiers befreien. Als sie die gefährliche Szene sieht, rennt sie los, schreit nach Tochter Sinhai. Die Fünfzehnjährige soll den Strom des Weidezauns abdrehen. Dann sprintet sie auf die Koppel, greift nach der Eisenstange und drischt auf Theos Rücken ein. Der Schäferhund prescht heran, beißt den Stier ins Bein. Theo hebt den Kopf, Winter knallt ihm die Stange zwischen die Hörner. Der Bruchteil der Sekunde genügt, Wudke kommt auf die Beine. Er rennt los, springt über den Weidezaun. Theo will hinterher. Gerade noch schafft Wudke es, ebenso wie seine Lebensgefährtin.
Marion Winters Intuition, nach ihrem Mann zu sehen, hat sich als richtig erwiesen. Sie trägt seit vielen Jahren einen roten Punkt zwischen den Augenbrauen. "Das ist ein aus Indien stammendes Energiezeichen und steht für Intuition", erklärt Winter. Sie ist Geschäftsführerin eines Entwicklungslabors im Agrarbereich und Vorsitzende des SPD-Ortsverbands Arnstorf.
"Ein zweiter Stier kommt mir nicht ins Haus" Als junge Frau hatte sie einen Autounfall. Aquaplaning, Crash. Blutüberströmt sei sie aus dem zerbeulten Auto gekrochen, auf der Straße zusammengebrochen, beinahe hätte sie ein anderer Wagen überrollt. "Mindestens fünf Leute standen um mich herum und haben nur zugeschaut. Dieses Gefühl der Ohnmacht, dass einem keiner hilft, werde ich nie vergessen." Damals hat sie sich vorgenommen, immer zu helfen.
Bei einem Stierkampf wird sie ihrem Mann nicht mehr beispringen müssen. Denn auf dem kleinen Hof gibt es keinen Theo mehr. Nur noch drei Kühe, drei Pferde, zwei Hunde und zwei Katzen. Theo wurde notgeschlachtet. Zu stark war er auf Wudke fixiert, zu oft machte er neue Angriffsversuche. Marion Winter bedauert den Tod des Tieres, ist aber zugleich erleichtert. "Ich kann wieder ruhig schlafen. Ein zweiter Stier kommt mir nicht ins Haus." Und das ist keine Intuition, sondern Tatsache.
Die einen dringen in brennende Häuser vor, andere tauchen nach einem untergegangenen Auto oder fallen Schlägern in den Arm: Elf Menschen aus der Region bekommen am heutigen Montag die Lebensretter-Medaille von Ministerpräsident Horst Seehofer. Jeder von ihnen hat auf beeindruckende Weise die eigene Angst überwunden und einen Mitmenschen vor dem Tod bewahrt.