Straub, Julia
Thema: Krankheit; Tod, Tote
M1: PNP, 01.03.2014, Nr. 50, S.36
Julias Vermächtnis hilft durch die Trauer
"Wir leben den Tag." Dieses Motto hat seit August das Leben der Familie Straub aus Tiefenbach bestimmt. Bis Julia (12) vor drei Wochen den Kampf gegen den Krebs verlor. Nun kämpfen Vater, Mutter und Schwester mit der Trauer – Julias Vermächtnis hilft ihnen dabei.
Von Carola Brunner
Julia ist überall. Im Supermarktregal. Im Kühlschrank. Im Swimmingpool. Alles erinnert an sie: die Mango, die sie so gerne aß; der Spezi, auf den sie bestand, wenn sie ihre Tabletten schlucken musste; das Schwimmbecken, in dem sie so gern planschte. Julia ist selbst dort zugegen, wo etwas fehlt: das vierte Platzset am Esstisch, das nicht mehr aufgedeckt werden muss; die zweite Tafel Schokolade, die der Opa aus Tschechien nicht mehr mitbringt, als er zu Julias Beerdigung anreist. Er hat nur noch eine dabei. Für Jana. "Das ist die Realität", sagt die 16-Jährige. Es ist eine nüchterne Beschreibung der Situation. Vielleicht hilft es, den Schmerz in Schach zu halten.
Jana sitzt am Esstisch mit ihren Eltern, Stanja und Thomas Straub. Hinter Jana auf der Fensterbank steht ein Foto ihrer Schwester, aufgenommen in jener Zeit, in der die Welt nicht mehr heil war, aber zumindest noch voll Hoffnung. Julia mit verschmitztem Lächeln und Kurzhaarfrisur – ein elfjähriges Mädchen, das 18 Blöcke Chemotherapie hinter sich hat. Damals wollte die Familie glauben, dass Julia den Kampf gewonnen hat – anders als der Opa, der ein Jahr zuvor an Krebs gestorben war.
Die ganze Wucht der Wahrheit
Wahrheit: Was Julia durchgemacht hat, reicht schließlich für ein Leben, noch dazu ein so junges: Diagnose Knochenkrebs, lange Klinikaufenthalte, unzählige Untersuchungen, etliche Therapien, eine große Operation am Bein. Dabei waren Teile des Kniegelenks und der Knochen entfernt und durch eine Endoprothese ersetzt worden.
Julia leidet darunter, aber sie jammert nicht. Sie weiß, dass sie nie Schuhe mit hohen Absätzen wird tragen können wie ihre Freundinnen. Aber sie besitzt die Kraft und den Mut, in die Offensive zu humpeln. "Sie ist damit ganz offen umgegangen", sagt ihre Mama. Stanja Straub erzählt eine Begebenheit: Einmal beim Einkaufen fragte eine Verkäuferin, ob Julia beim Skifahren hingefallen sei und deswegen hinke. Julia antwortete: "Nein, ich habe Krebs". Beinahe hätte es die Wurstverkäuferin umgehauen angesichts der Wucht, mit der Julia ihre Mitmenschen mit der Wahrheit konfrontierte.
"Ja, so war sie, unsere Julia", sagt Thomas Straub. Sein Blick, der zum Fenster gerichtet war, wandert hoch zu einem Foto seiner Tochter. Es hängt an der Wand neben einem Kreuz aus Holz. Julia als Zwölfjährige mit ernstem Blick und langem, hochgestecktem Haar – in dem Jahr vor dem Rückfall. Julia in der Schule. Beim Radfahren. Beim Schwimmen. Beim Einkaufen. Beim Schminken. Unzählige Momente scheinen zum Greifen nah. "In dieser Zeit hat Julia gelebt, ist ins Kino gegangen, 20 Mal hintereinander Achterbahn gefahren", erinnert sich Jana. "Julia hat keine Gelegenheit ausgelassen. Wo etwas los war, war sie dabei", sagt ihre Mama. Es ist eine kurze Verschnaufpause für die Familie. Im Nachhinein sind alle froh, dass Julia so viel erlebt hat.
In den Sommerferien fahren die Straubs in Urlaub, wollen fast schon daheim bleiben, weil Julia plötzlich Fieber hat. Aber dann fahren sie doch. Zum Glück. Es ist die letzte gemeinsame Reise.
Eine Woche vor Schulbeginn muss Julia wieder nach München ins Krankenhaus. Verdacht auf Lungenentzündung. Untersuchungen folgen, erst geben die Ärzte Entwarnung, dann bestätigen sie die schlimmsten Befürchtungen. Achterbahnfahren ist ein Klacks dagegen.
Zweieinhalb Jahre nach der ersten Krebsdiagnose wird klar: Julia hat einen Rückfall. Sie weiß, was das bedeutet. Und nicht nur sie. Auch Jana. Sie ist 16, geht in die zehnte Klasse des Gymnasiums Leopoldinum. Sie lässt sich beurlauben. Das geht, weil sie nicht mehr schulpflichtig ist. Die Familie rückt zusammen, enger als je zuvor; enger als andere es jemals schaffen, obwohl ihnen vielleicht ein ganzes Leben dafür zur Verfügung steht.
Acht Wochen bleibt Julia in der Schwabinger Kinderklinik. "Das war das Schlimmste für Julia. Sie wollte einfach nicht mehr im Krankenhaus sein", sagt Stanja Straub. So oft es geht, entfliehen Eltern und Schwester mit der Tochter ins Leben, machen sich am Nachmittag drei schöne Stunden beim Shoppen in Schwabing, beim Besuch im Tierpark, auf dem Oktoberfest. Das Motto lautet: Wir leben den Tag.
Doch die Landung in der Wirklichkeit fällt umso härter aus. Ende Oktober wird Julia operativ ein großer Tumor auf der Lunge entfernt, die Ärzte raten erneut zur Chemo. Heilung können sie Julia nicht versprechen. Die Zwölfjährige lehnt die Behandlung ab. "Sie hat in Schwabing gesehen, wie es den anderen geht. Es war nicht so, dass sie den Tatsachen nicht ins Auge sehen konnte. Sie war kein kleines Kind mehr. Julia hat uns die Entscheidung abgenommen, und wir wollten sie nicht übergehen. Ich habe es nie bereut", sagt Thomas Straub. Er und seine Frau versprechen der Tochter, dass sie nicht mehr ins Krankenhaus muss. Und alle wissen, was das bedeutet in letzter Konsequenz.
Julia ist daheim, bekommt Hausunterricht von Lehrern des Leopoldinums. An guten Tagen unternimmt die Familie Ausflüge, die Julia sich wünscht: ins Möbelhaus und ins Tierheim, ins Burger-Restaurant und in die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. "Ja, da wollte sie unbedingt hin, das hat sie interessiert", erzählt ihre Mama.
Wünsche für die letzte Reise
Kurz vor Weihnachten sagt die Zwölfjährige: "Der Opa ruft mich zu sich". Ansonsten redet sie kaum über ihre Krankheit. Sie will ihre Familie nicht belasten, will vermeiden, dass die Mama wieder ihren Große-Sorgen-Blick aufsetzt.
Julia macht viel mit sich aus. Knipst hunderte Fotos von sich, lädt mit ihrem Handy Bilder und Sprüche aus dem Internet herunter, die von Tod und Erlösung handeln und von einem Tunnel, an dessen Ende gleißendes Licht hereinströmt. All das entdeckt die Familie erst nach Julias Tod. Doch verborgen bleibt den Eltern und der Schwester nicht, das Julia sich vorbereitet auf ihre Reise.
Das Mädchen weiß, was passieren wird. Nicht erst in dem Moment, als Mitte Januar wieder ein großer Tumor auf der Lunge gefunden wird. Als das Palliativteam aus München kommt. Als zwei große Sauerstoffgeräte nötig sind, damit Julia noch genug Luft bekommt. Als sie nicht mehr in ihrem Zimmer im ersten Stock liegen kann, sondern ein Pflegebett im Wohnzimmer aufgestellt wird. Hin und wieder gibt sie ihrer Mama Regieanweisungen. In kleinen Dosen, um sie nicht zu traurig zu machen. Sie will ganz bestimmte Kleidung tragen, wünscht sich einen schwarzen Hochglanz-Sarg und rote Rosen. Stanja Straub verspricht der Tochter, alles zu beachten. Sie kümmert sich rund um die Uhr um sie, zweifelt aber immer wieder an ihrer Kraft. "Ich habe Julia versprochen, dass sie nicht ins Krankenhaus muss. Aber ich hatte Angst, ob ich es auch schaffe. Man weiß nicht, was auf einen zukommt", sagt die Mama. Sie hat alle Versprechen gehalten. Julia durfte zuhause sterben.
Während Stanja Straub mit leiser Stimme spricht, schweift ihr Blick zu Julias Foto neben dem Kreuz. Ganz nah beim Herrgott. Dort ist Julia jetzt in der Vorstellung von Thomas Straub. Jener Samstag vor drei Wochen, als Julia ihren Kampf aufgegeben hat, war sein Geburtstag. Thomas Straub ist ein gläubiger Mensch. "Vielleicht hat sie es wissen dürfen, dass sie in den Himmel kommt. Und mir dies zum Geschenk gemacht."
Jetzt muss der Papa nicht mehr hilflos zusehen, wie seine Tochter von Tag zu Tag schwächer und schwächer wird. Jetzt muss die Mama nicht mehr rund um die Uhr gegen die ständige Angst ankämpfen. Jetzt muss die Schwester nicht mehr fürchten, dass das Morphium und all die Tabletten nicht mehr reichen und Julia eine Schmerzpumpe – und damit wieder einen Venenzugang – braucht. Julia hat das wohl geahnt. "Ich muss sterben, dass es euch gut geht", sagte sie zu ihrer Familie. Für die Eltern und die Schwester war es schwer, Julia leiden zu sehen. "Aber es ist für uns noch schwerer, dass sie nicht mehr da ist", sagt Jana. Sie jammert nicht, sie beschreibt die Realität, die es auszuhalten gilt. Die jeder aushalten muss, der einen geliebten Menschen verliert.
Trost ist für die Familie nur schwer zu finden. "Man kann sich nicht freuen, wenn die Sonne scheint", sagt Stanja Straub. Immer wieder blickt sie zu Julias Foto, schaut ihrer Tochter in die Augen. Als könne sie darin lesen, was sie in ihrem Innersten bereits weiß: Dass Julia ihrer Mama, ihrem Papa und ihrer Schwester den Weg bereitet hat, mit der Trauer zu leben und daran nicht zu zerbrechen. Sie hat sie gelehrt, den Tatsachen ins Auge zu sehen, auch wenn sie erschreckend sind; sie hat sie gelehrt, offen zuzugehen auf Menschen, Hilfe anzunehmen.
Julia durfte erfahren, dass diese Offenheit ihr viel Anteilnahme und auch Glücksmomente beschert: An einem Tag im letzten November beispielsweise schaute sie aus dem Fenster und traute ihren Augen nicht. Vor dem Haus stand ein blauer Audi R8, ein superschneller Sportwagen. Am Steuer saß Georg Kusser von den Wirtschaftsjunioren. Er hatte Julia und ihre Familie durch eine Spendenaktion kennengelernt, war seitdem mit Julia via Facebook in Kontakt. "Sie hat gestrahlt, als sie das Auto sah", sagt Thomas Straub. Bei der Erinnerung daran leuchten auch seine Augen. "Und der Georg hat auch gestrahlt. Es hat ihn gefreut, dass er Julias großen Wunsch erfüllen konnte. Er hat sich den R8 extra ausgeliehen und sich den ganzen Nachmittag Zeit genommen, Julia herumzufahren."
Neue Freunde in der Zeit des LeidensHätte Julia ihre Krankheit verheimlicht, wäre manche Freundschaft nicht entstanden, die ihr und ihrer Familie in den vergangenen Monaten Halt bot und jetzt eine Stütze ist. Lisa Maier und Martina Neukirchinger sind zwei solcher Menschen, die Stanja, Thomas und Jana Straub erst durch Julias Krankheit kennenlernten. Die da waren an jenem Samstag vor drei Wochen, als Julia starb; die bei der Trauerfeier in St.Korona mit Geschichten und Gedichten Hoffnung stifteten; die zuhören und mitgehen, wenn Stanja Straub die Leere daheim nicht mehr aushält und zum Friedhof spaziert.
"So schlimm das alles war, die Krankheit, die ganze Zeit: Wir haben dadurch sehr wertvolle Menschen kennengelernt. Dafür sind wir sehr dankbar", sagt Stanja Straub. Sie möchte das irgendwie zurückgeben. Wie Jana überlegt sie, sich ehrenamtlich zu engagieren. Den Grund kennt auch Thomas Straub: "Wir hatten nie das Gefühl, dass wir allein sind. In der Arbeit, bei der Feuerwehr, beim Frauenbund, in der Pfarrei – wo man jemanden kennt, da kommt etwas zurück." Das Aufeinanderzugehen fällt leichter, weil Julias Geschichte in der Öffentlichkeit war, davon ist Stanja Straub überzeugt.
Dass die Familie nicht allein ist, das merkt sie auch, als die Heimatzeitung auf Janas Idee hin einen Aufruf veröffentlicht, um auf diesem Weg einen Rottweiler als "tierischen Besucher" für Julia zu finden. Es gibt so viele Hilfsangebote, E-Mails, so viel echte Anteilnahme, dass die Familie es gar nicht schafft, jedem einzelnen ihre große Dankbarkeit auszudrücken. Auch wenn es Julia nicht mehr vergönnt ist, mit einem der vielen Rottweiler zu spielen, deren Besitzer sich melden, so hat sie dank eines Lesers noch einen "Wachhund" bekommen: Der kleine Plüsch-Rottweiler, den ein Leser wenige Tage vor Julias Tod in der Landkreis-Redaktion abgibt, hat Julia noch rechtzeitig erreicht. Ihre Mama sagt: "Er ist mitgegangen auf die Reise."
PNP, 01.03.2014, Nr. 50, S.36
DER WEG ZURÜCK INS LEBEN: Ein Gespräch mit Trauerbegleiterin Ulrike König
Salzweg/Passau. "Trauer ist ein sehr vielseitiges Thema", sagt Ulrike König, eine von fünf Trauerbegleiterinnen des Katholischen Deutschen Frauenbundes in Passau. Zusammen mit Christl Hoch, Brigitte Hartl, Marita Polster und Hiltrud Tschirner ist sie da für trauernde Erwachsene und Kinder. Im PNP-Gespräch erläutert die Salzwegerin, worauf es beim Umgang mit Trauer ankommt.
Sie begleiten trauernde Menschen. Was ist dabei wichtig?
Ulrike König: Das Wichtigste ist, dass ich dem Trauernden zuhören kann, ohne es zu bewerten. Er soll das Gefühl haben, es ist jemand da, der mich und meine Situation sieht und versteht und sich Zeit für mich nimmt. Die Trauerbegleiterin geht den Weg des Trauernden eine Zeit lang ganz nach dessen Bedürfnissen mit. Sie hilft dem Trauernden, den nächsten Schritt zu sehen und zu realisieren, ohne ihn unter Druck zu setzen. Sie versteht das Chaos der Gefühle, nimmt Launen nicht persönlich.
Ist es richtig, dass ein trauernder Mensch verschiedene Phasen durchläuft?
Ulrike König: Jede Trauer ist anders. Jedoch haben diejenigen, die sich wissenschaftlich mit dem Thema befassen, bestimmte Abschnitte auf den Trauerwegen gefunden, die bei vielen Trauernden ähnlich sind. Am Anfang steht ein Gefühl der Betäubung, ein Schockzustand, das Nicht-Wahr-Haben-Wollen. Die zweite Phase ist die der aufbrechenden Gefühle. Dazu gehören Wut, Neid, Angst, Verlassensein, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Schuldgefühle und die Suche nach Schuldigen. In Phase drei, wenn der Trauernde das Gefühlschaos zulässt, kann die Zeit des Suchens, sich Findens und sich Trennens kommen. Gefühle der Sehnsucht, der Mutlosigkeit, aber auch der Dankbarkeit und Freude wechseln. Der Trauernde ist bereit, innere Zwiegespräche zu führen und vom Verstorbenen endgültig Abschied zu nehmen. Die vierte Phase ist die Rückkehr in die Welt, eine bewusste Entscheidung für das Leben. Der Verlust wird nicht verdrängt. Wichtig ist: Diese Phasen verlaufen nie streng nach diesem Schema, können öfter durchlebt werden und sich vermischen.
Worin finden Trauernde Trost?
Ulrike König: Gespräche mit Gleichgesinnten oder mit Menschen, die den Trauernden verstehen, spenden Trost. Es gibt auch unzählige sehr gute Bücher über das Trauern. Sie können Trost finden im Glauben, in Selbsthilfegruppen und in Trauergruppen, wie sie der Frauenbund anbietet.
Wie verhalte ich mich gegenüber Trauernden im Bekanntenkreis?
Ulrike König: In der Trauer ist man sehr feinfühlig und leicht verletzbar. Deshalb ist es wichtig, einfach zuzuhören, keine klugen Ratschläge zu geben und das Weinen zuzulassen. Man muss immer wieder versuchen, auf den Trauernden zuzugehen, auch wenn er manchmal sehr abweisend ist. Als Freund oder Bekannter muss man selbst aktiv werden, der Trauernde hat dazu oft nicht die Kraft. Wichtig ist: Der Trauernde braucht Zeit.
Welche Angebote für Trauernde gibt es beim Frauenbund?
Ulrike König: Wir bieten kostenlos jeden ersten Mittwoch im Monat ein Trauercafé und jeden dritten Donnerstag im Monat ein Trauerfrühstück in Passau an. Außerdem sind Einzelsprechstunden
Auskunft zu allen Angeboten des Frauenbundes für Trauernde gibt es unter 0851/36361. möglich.
M2: Bilder
M3: Didaktische Impulse
1. Sammelt Begriffe / Adjektive, die Julia Straub beschreiben: Sammelt diese an einer Pinnwand und stellt sie der Klasse vor. Diskutiert darüber.
2. Schreibt einen Dankesbrief an Frau König mit Argumenten, was ihr an ihrer Arbeit schätzt.