Straßer, Alois
Thema: Tod, Seelsorge
Die Ausstellungstafel entstammt der Wanderausstellung "Tolle Typen heute", die ausgeliehen werden kann. Weitere Informationen siehe Wanderausstellung
M1: Ausstellungstafel
M2: PNP, 04.01.2022, Nr. 2, S. 27
"Was du gibst, kommt zurück. Immer"
Nach 30 Jahren als Krankenhaus-Seelsorger geht Alois Straßer in den Ruhestand – 20 Jahre war er bei Notfällen im Einsatz
von Simone Kuhnt
Wer im Auto übers Land fährt, sieht am Straßenrand immer mal wieder Kreuze stehen. Alois Straßer (65) aus Vilshofen kennt bei den meisten die Geschichte dahinter. Es war ein Ostertag, als drei junge Männer auf dem Weg zur Disko tödlich verunglücken. Angehörige und Feuerwehr-Kameraden eilten zum Unglücksort, es kam zu dramatischen Szenen. Alois Straßer kam als Notfallseelsorger dazu. Wie kann er in einer solchen Situation helfen? In dem er einfach da ist.
Alois Straßer erinnert sich an viele schreckliche Szenarien, die sich unmittelbar nach Verkehrsunfällen bieten. Er weiß, wer wo tödlich verunglückt ist, hat das Leid der Angehörigen ein Stück weit miterlebt. Knapp 20 Jahre war er im Bereitschaftsdienst der Notfallseelsorger im Altlandkreis Vilshofen tätig. Noch länger, knapp 30 Jahre, begleitete er als Krankenhaus-Seelsorger in Vilshofen Kranke und Sterbende, war zugleich katholischer Religionslehrer an der Wirtschaftsschule in Passau. Jetzt geht der Pastoralreferent in den Ruhestand.
Seit September arbeitet er am Krankenhaus seine Nachfolgerin, Gemeindereferentin Regina Maller (44), ein. Am 13. Januar wird er in der Krankenhauskapelle offiziell verabschiedet. Wie es ihm damit geht? Alois Straßer antwortet in seiner bedächtigen Art mit einem Bibelzitat: "Alles hat seine Zeit."
Doch dieses Gottvertrauen hatte er nicht immer. Als Bub hatte er – wenn es um Gott ging – vor allem eins: Angst vor dessen Zorn. Nach den ersten drei Grundschuljahren in seinem Herkunftsort Neuhaus am Inn schicken ihn die Eltern auf Empfehlung eines Lehrers ins Internat nach Fürstenstein. Dort, bei den gestrengen Klosterschwestern, soll der kluge Bub vom Land auf den Übertritt ans Gymnasium vorbereitet werden. "Ich war ein Jahr lang im Gefängnis", sagt Alois Straßer heute. "Wenn ich alle paar Wochen übers Wochenende heimfahren durfte, fing ich dort schon Sonntagfrüh zu weinen an."
Im Internat müssen die Buben täglich in die Messe. Einmal passiert dem Pfarrer bei der Heiligen Kommunion ein Missgeschick, das auch der neben ihm dienende Ministrant nicht "auffangen" konnte: Als der Pfarrer dem zehnjährigen Alois die Hostie in den Mund geben will, fällt diese zu Boden. Alois bückt sich reflexartig, nimmt sie und steckt sie sich selbst in den Mund. Sekunden danach durchfährt den eingeschüchterten Buben ein Schreck: Er hat das Allerheiligste, den Leib Christi, berührt, den nur der Pfarrer berühren darf! "Nach der Messe hab’ ich mich in der Kleiderkammer der Ministranten versteckt und im Dunkeln darauf gewartet, dass mich der Blitz trifft. Das war Todesangst", erinnert sich Alois Straßer. Und dann passierte – nichts. Alois lebt einfach weiter. Doch jetzt weiß er: Den strafenden Gott, den man den Buben damals vermitteln wollte, gibt es nicht.
Alois Straßer hat erfahren: Gott ist gütig. Er schafft den Sprung aufs Gymnasium und kommt in Passau ins Internat St. Max. Eine bessere Zeit bricht an. Ein Erzieher, der mit den Heranwachsenden auf Pfadfinderlager geht, sie ernst nimmt, sie einfach mag, wird für Alois Straßer zum großen Vorbild. Später wird dieser Erzieher Pfarrer. "Das könntest du auch versuchen", denkt sich Alois Straßer.
Dazu kommt die Erfahrung der Endlichkeit, die ihn schon früh zu einem nachdenklichen und bewussten Menschen macht: Sein Vater ist lange schwer krank. Er stirbt, als Alois Straßer 17 ist. Zwei Jahre später hat er das Abitur in der Tasche, studiert danach Theologie in Passau und München. In dieser Zeit lernt er seine Frau Christiane kennen, mit der er inzwischen über 40 Jahre verheiratet ist. Wie gut, dass sich damals gerade ein neues Berufsbild für Theologen etabliert: Pastoralreferent. Als Laie in der Kirche mitarbeiten. Das ist es.
Dass der damalige Bischof Franz Xaver Eder eine Kirche gestalten will, die für die Menschen da ist, "ihnen den Himmel offenhält", findet Alois Straßer außerordentlich inspirierend. Vom Generalvikar nach seinen Stärken befragt, antwortet er, dass er besonders im direkten Kontakt gut für den einzelnen Menschen da sein könne.
Eineinhalb Jahre später, 1992, wird die halbe Stelle der Krankenhaus-Seelsorge in Vilshofen frei. Er bewirbt sich und bekommt sie. Ergänzend unterrichtet Alois Straßer an der Wirtschaftsschule in Passau Religion. So, wie er es bei seinem Vorbild, dem Erzieher in St. Valentin, erlebte, hält er es nun selbst: Er zeigt den Schülern, dass er sie achtet, setzt Impulse, eröffnet den Raum für das Gespräch, für eigene Gedanken, auch für Kritik an denen, die an der Macht sind. "Das Wichtigste war mir immer, dass sie zu Leuten werden, denen es gut geht", erklärt er. "Jemandem den lieben Gott reindrücken, geht gar nicht."
Das ist ihm auch klar, als die Diözese ab 2002 die Notfallseelsorge für Menschen in akuten Notfall-Situationen auf die Beine stellt. Alois Straßer beginnt, auch "auf der Straße" seinen Beitrag zu leisten, in der "Blaulicht-Gemeinschaft der Polizeibeamten, Rettungskräfte und Bestatter". Noch immer trägt er das 20 Jahre alte Handy in der Hosentasche, dessen Nummer nur die Integrierte Rettungsleitstelle kennt. Klingelt es, weiß Alois Straßer, dass er aufbrechen muss. Sofort.
Er hat nicht gezählt, wie viele Frauen, Männer und Kinder er als Lehrer, Krankenhaus- und Notfallseelsorger mit Worten, Gesten oder einfach nur geteilter Stille begleitet hat. Nicht wenige Begebenheiten werden ihm im Gedächtnis bleiben.
Die Unglücke in Betrieben, die tödlichen Unfälle im Straßenverkehr. Die Dachböden und die Brücken, die Menschen aufgesucht haben, um sich das Leben zu nehmen. Die zurückbleibenden Partner und Kinder, denen der Boden unter den Füßen weg bricht. Ein Suizid in seinem eigenen Umfeld, der ihm, "dem Profi, der sich auskennt", einmal selbst den Boden unter den Füßen weggezogen hat – beim Nachdenken werden so viele Geschichten lebendig. Alois Straßer kann die Erinnerungen an sie wie Schubladen öffnen und schließen.
Es sind herzzerreißende, chaotische, manchmal völlig verrückte, für unmöglich gehaltene Krisensituationen, in denen er, selbst Vater dreier Söhne, für die Menschen da ist und anbietet, ihnen beizustehen. Er bleibt ruhig, wenn alles auseinanderbricht. Er steht, wenn der Boden wankt. Aber allein fahre er nirgendwo hin, betont er. Sein Glaube trage ihn. Er helfe ihm, sich zu öffnen für das, was sein Gegenüber gerade brauche. Alois Straßer – der Seelsorger, der sich um die Seele sorgt. Er denkt an den krebskranken Familienvater im Krankenhaus, der nach langem Leiden sagt, "Herr Straßer, ich bin so glücklich, dass ich sterben darf." "Wie kam es dazu?", will Alois Straßer wissen. "Gestern waren meine Angehörigen, meine Kinder da. Wir haben lange gesprochen und sie lassen mich gehen."
Zu 80 Prozent gehe es darum, zuzuhören, erklärt Alois Straßer. Die restlichen 20 Prozent bestünden darin, die Menschen zu unterstützen, Antworten auf ihre Fragen zu finden, auf dass sie ihren Weg gehen können. "Gott ist da, auch wenn wir nicht daran glauben, dass er da ist" – davon ist Alois Straßer überzeugt. Und obwohl seine Unterstützung auch gelegentlich abgelehnt wird, ist ihm zur Gewissheit geworden: "Keine Kontaktaufnahme, nichts ist umsonst. Was du gibst, kommt zurück. Immer. Manchmal von einer anderen Seite, als du denkst. Hilfst du, wird auch dir geholfen."
Vor jedem Einsatz schickt Alois Straßer eine kurze Bitte um Beistand "nach oben" und danach ein schlichtes "Danke". "So funktioniert das zwischen ihm und mir am besten", erklärt er.
Kurze Auszeiten, Rückzug und neue Kraft fand Alois Straßer in der Stille der Krankenhauskapelle – und nach Feierabend bei körperlicher Betätigung. Früher ist er gerne aufs Fahrrad gestiegen oder ins Schwimmbad gegangen, heute schätzt er vor allem die Arbeit mit den Händen und mit Holz. Als Sohn eines Schlossers kann er sich in vielem selber helfen, ein Blechdach dengeln und auch Möbel schreinern. Sein Sohn Tobias hat sich ein altes Haus gekauft. Das gilt es jetzt zu sanieren. "Ich freu’ mich schon darauf, den alten Putz runterzuklopfen", sagt Alois Straßer.
M3: Bild von Alois Straßer
M4: Diaktische Impulse
1. Recherchiere den Begriff "Notfallseelsorge". Was genau ist darunter zu verstehen?
2. In welchen Situationen sind Menschen auf Mitarbeiter*innen der Notfallseelsorge angewiesen? Welche Fähigkeiten und Charakterzüge sollte ein*e Notfallseelsorger*in mitbringen? Erstellt gemeinsam eine Mind-Map zu den beiden Fragen.
3. "Was du gibst, kommt zurück. Immer." - dieses Zitat stammt von Alois Straßer. Tausche dich mit einem*r Partner*in aus: Was könnte Herr Straßer mit dieser Aussage meinen?
4. Gestalte eine Urkunde für Alois Straßer. Für welche Eigenschaft zeichnest du ihn besonders aus?