Stamm Theresa, Bitsch Lorenz, Schwittek Sophie
Thema: Eine Welt,Entwicklungszusammenarbeit, Freiwilligendienst
M1: Bayerwaldbote, 27.04.2010, Nr. 88 , S. 22
von Ingrid Frisch
In der Schule des Lebens
Wohlbehütet sind sie im Schlaraffenland aufgewachsen. Bestens medizinisch versorgt, im Schoß der Familie gut aufgehoben. Drei dieser Zivilisations-Kinder wollen die Welt aus einer anderen Perspektive kennen lernen − nicht bei einem dreiwöchigen Praktikum oder einem Rucksack-Urlaub.
Theresa Stamm, Sophie Schwittek und Lorenz Bitsch, die vergangenes Jahr ihr Abitur am Gymnasium Zwiesel gemacht haben, suchen tiefere, authentischere Eindrücke. Seit sechs bzw. neun Monaten sind die drei ehrenamtlich im Entwicklungsdienst, die Mädels in Afrika, der junge Mann in Südamerika. Per Email haben sie dem Bayerwald-Boten von ihrem Alltag erzählt, von ihren Erfahrungen, schönen und weniger schönen Erlebnissen. Die Umstellung von einer Rundum-Versorgung im „Hotel Mama“ in einem der reichsten Länder der Welt auf ein Leben in einfachen bis ärmlichen Verhältnissen hat sie Kraft gekostet. Die fremde Mentalität, Verständigungsprobleme, ein ermüdendes Klima fordern sie heraus. Aber die Drei beißen sich selbstbewusst durch und sind glücklich, die Chance genutzt zu haben, so intensiv über den Tellerrand zu schauen. Sie sind bei allem Abenteuer nicht ganz auf sich alleine gestellt. Die Organisationen, für die sie im Einsatz sind, arbeiten mit dem Entwicklungshilfeministerium zusammen. Eines ist schon jetzt sicher: Dieses Auslandsjahr wird sie prägen, ein Leben lang.
Beitrag 1: Mit Hühnern und Ziegen im "Daladala"
Theresa Stamm (20) aus Regen erlebt in Tansania ungewöhnliche Transportmittel und disziplinierte Kinder
von Ingrid Frisch
Englisch − Kisuaheli − Zeichensprache, aus diesem Repertoire schöpft die 20- jährige Theresa Stamm aus Regen
für Gespräche in ihrer neuen „Heimat“ in Afrika. Die Abiturientin lebt und arbeitet seit über neun Monaten im afrikanischen Tansania. Nahe der 120 000-Einwohner-Stadt Morogoro, etwa 200 Kilometer westlich der Hauptstadt Dar es Salaam, betreut sie Zwei- bis Fünfjährige in einem Kindergarten des Lutheran Junior Seminary. Auf dem Campus gibt es auch eine Schule mit rund 700 Schülern zwischen zwölf und 20 Jahren, eine kleine Farm und eine Kisuaheli - Schule für Missionare oder ehrenamtliche Helfer. Theresa wohnt bei den Sprachschülern - für afrikanische Verhältnisse luxuriös: Sie hat ein eigenes kleines Zimmer, muss nicht selbst kochen und das Bad „nur“ mit fünf anderen Schülern teilen.
Geckos im Zimmer, Skorpione in der Dusche, Tausendfüßler im Bett, eine Kobra vor der Zimmertür − an allerlei Kriechtiere musste sich Theresa genauso gewöhnen wie an die Müllberge, die überall herumliegen. „Wenn’s zu viel wird, gibt’s eine große Verbrennungsaktion“, beschreibt die Regenerin den afrikanischen Weg der Müllentsorgung. Auch der Straßenverkehr ist nicht ohne: Schrottreife Autos jagen uralte Daladalas, Kleinbusse mit etwa 14 Sitzplätzen, auf die sich grundsätzlich doppelt so viele Fahrgäste quetschen − und oft sind auch noch Hühner und Ziegen im Bus.
Diese Raserei auf den Straßen passt eigentlich gar nicht zur Mentalität der Tansanier: „Haraka haraka haina baraka“ (Eile, Eile hat keinen Segen) ist ihr Lebensmotto. Wenn die blonde Deutsche mal wieder mit Schwung unterwegs ist, wird ihr von allen Seiten „pole, pole“ (langsam, langsam) hinterhergerufen. Schließlich muss für Plauderei mit Fremden auf der Straße immer Zeit sein: Wie geht’s der Familie? Wie geht’s in der Arbeit? Wie geht’s daheim? Die Antwort ist vorprogrammiert: Gut. Jede andere wäre äußerst unhöflich.
Freunde zu finden ist für die junge Frau aus dem Schlaraffenland mühsam. Mädchen begegnen ihr abweisend. Und die Rechnung vieler junger Männer sieht so aus: weiße, reiche Frau ist gleichbedeutend mit einem Ticket nach Deutschland. Dieses Verhalten hat Theresa traurig und vorsichtig gemacht. Mittlerweile aber hat sie drei „richtig gute tansanische Freunde“ gefunden, zwei davon Massai, die als Hilfslehrer an der Kisuaheli - Schule arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren.
Auch im Kindergarten, wo Theresa sechs Stunden pro Tag arbeitet, weht ein anderer Wind als in Deutschland. Außer 30 tansanischen Kindern werden dort momentan drei kleine Amerikaner und ein Koreaner betreut. Theresas Hauptaufgabe ist es, auf die weißen Kinder aufzupassen und zwei Mal pro Woche die tansanischen Kinder eine Stunde in Englisch zu unterrichten. Auch sonst haben die Kleinen richtig strenges Programm: Gespielt wird höchstens eine Stunde am Tag. Die übrige Zeit wird schreiben, lesen und rechnen geübt. Mit unglaublicher Geduld, die Theresa von deutschen Kindern nicht kennt, sitzen schon Dreijährige stundenlang still und versuchen das Alphabet nachzumalen. Gelingt es ihnen nicht, warten sie bis ihnen jemand hilft. „Die Arbeit im Kindergarten macht mir total Spaß“ erzählt Theresa Stammbegeistert.
Weniger begeistert ist sie vom Klima in Morogoro. „Die 30 bis 35 Grad, die wir immer hier haben, wären ja ganz schön, wenn’s nicht so entsetzlich schwül wäre“. Drei mal duschen am Tag ist keine Seltenheit − sofern es gerade fließend Wasser gibt.
Beitrag 2: "Die beste Entscheidung meines Lebens"
Lorenz Bitsch (20) betreut in einer Landwirtschaftsschule in Argentinien Jugendliche
von Ingrid Frisch
Ein eigenes Zimmer als Rückzugsmöglichkeit? Gibt’s nicht. Lorenz Bitsch, der Abiturient aus Regen, nächtigt seit neun Monaten mit 94 schnarchenden Jugendlichen in einem Schlafsaal, ein Vorhang schafft ein Minimum an Privatheit. Trotzdem steht für ihn außer Frage: Seinen Entschluss für ein Auslandsjahr in Argentinien nennt er „die beste Entscheidung meines Lebens“. Lorenz ist an einer Landwirtschaftsschule der Salesianer Don Boscos eingesetzt − „mitten in der Pampa von Cordoba“. Dort werden Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren zu Landwirten ausgebildet.
Zum gut 5000 Hektar großen Areal gehören 3000 Rinder und mehrere Werkstätten wie Schreinerei, Molkerei, Käserei und Schweinezucht.
Über 200 Schüler besuchen die Schule, darunter etwa 40 Mädchen. Wegen der Abgeschiedenheit wohnen viele der Buben im integrierten Internat. Und so ist Lorenz Bitsch fast rund um die Uhr mit ihnen beschäftigt − vom Wecken um 7.30 Uhr über die Arbeit in den Werkstätten bis zur „Schlafkontrolle“ um 24 Uhr. Das strikte Sprechverbot im Schlafsaal durchzusetzen, gehört zu den Aufgaben des 20-jährigen Waldlers.
Auf den ersten Blick ist Argentinien Europa gar nicht so fremd, erzählt er. Aber: Der Unterschied liegt im Detail, weiß Lorenz mittlerweile. Die Gelassenheit der Argentinier etwa, das sehr liberale Verhältnis zu Pünktlichkeit oder der Hang zu einem Päuschen bei einem Matetee hat er zu schätzen gelernt.
Auch mit dem argentinischen Essen kommt der Regener gut zurecht. Dass hauptsächlich „Fleisch mit Fleisch“ gegessen wird, sei ein Klischee. Anfangsschwierigkeiten hatte Lorenz, der einzige Deutsche an der Schule, vor allem wegen der Sprache. Sein bisschen Schul-Spanisch hat ihm nichts genutzt, weil in der Gegend Castellano mit Akzent gesprochen wird. Mit Händen und Füßen hat er die ersten Monate kommuniziert. Inzwischen klappt’ s deutlich besser. Die größte Umstellung aber war nach 13 Jahren Schule der Wechsel vom Betreuten zum Betreuer. In die Rolle einer Autoritätsperson musste der Abiturient erst hineinwachsen - zumal die älteren Schüler gerade mal zwei Jahre jünger sind als er. Es macht ihn zufrieden, dass er mittlerweile das Vertrauen der Schüler genießt, als Betreuer und als Freund. Die Kids teilen mit ihm Probleme, die sie einem der Patres der Schule wohl nicht anvertrauen würden. Gewalt in der Familie etwa ist nichts Ungewöhnliches.
Aber es bleibt auch Zeit für neue Eindrücke außerhalb von Landwirtschaftsschule und Werkstätten. Gerade ist Lorenz aus seinen Sommerferien zurück gekehrt. Die zweieinhalb Monate hat er genutzt, um Südamerika zu bereisen. Die Entscheidung für ein Auslandsjahr in Argentinien hat er „noch keinen Tag bereut“, versichert er. Weil er auch regelmäßig Kontakt zu seiner Familie und seinen Freunden pflegt, hat er auch nicht das Gefühl zu Hause etwas zu verpassen. Und mit der Geschichte über Weihnachten 2009, als er bei 40 Grad in kurzen Hosen in der Sonne saß und Glühwein trank wird er bestimmt noch oft Eindruck machen.
Beitrag 3: „Hier könnt ich’s aushalten, obwohl man stark sein muss“
Sophie Schwittek (20) arbeitet in Ruanda mit behinderten Kindern −Der Alltag lehrt sie Geduld und Bescheidenheit
von Ingrid Frisch
Seit einem halben Jahr ist Gitarama, 50 Kilometer südwestlich der ruandischen Hauptstadt Kigali, das Zuhause von Sophie Schwittek aus Regen. Sie ist bei einer Hilfsorganisation eingesetzt, die sich um behinderte Kinder kümmert. Richtig gefordert ist die Abiturientin dort nicht - im Büro erledigt sie ihre Aufträge für afrikanische Verhältnisse rasend schnell, so dass sie oft früher als geplant Feierabend macht. Von dem kleinen Land hat sie schon einiges gesehen - bei einem Fortbildungsseminar etwa oder im Außendienst, wenn behinderte Kinder registriert werden oder eine Behindertenklasse an einer Schule aufgebaut werden soll.
Allein den Alltag zu organisieren, fordert Improvisation: „Meine erste Dusche war eine Schüssel voll Wasser“, erzählt Sophie, die mit einer anderen deutschen Helferin in einem einfachen Haus wohnt, mit Strom und mittlerweile fließend Wasser. Kochen dauert auf einem kleinen Kohleofen Stunden. Meist bereiten sich Sophie und ihre Mitbewohnerin Reis oder Süßkartoffeln mit Gemüse. Jeden zweiten Tag müssen sie einkaufen, weil sie keinen Kühlschrank haben. Zum langen Bummeln auf dem Markt bleibt keine Zeit: Um 18 Uhr wird’s dunkel.
„Das Leben hier macht mir viel Spaß, ich könnt‘ s hier aushalten obwohl man schon sehr stark sein muss und eine dicke Haut braucht“, erzählt die Wahl-Afrikanerin, die sich erst daran gewöhnen musste, dass eine Weiße unverhohlen angestarrt wird und Kinder sie anfassen wollen. Sie hat gelernt spontan und flexibel zu sein, die Ruhe zu bewahren − und Kleinigkeiten zu schätzen: eine funktionierende Dusche zum Beispiel. Sie weiß, dass es ihr überdurchschnittlich gut geht und sie mehr verdient als ihre Chefin. Über das Weltgeschehen ist Sophie wenig informiert: Sie hat weder Fernseher
noch Radio. Auch ihr Weihnachts-Wunschzettel an ihre Familie fiel bescheiden aus: Knabberzeug, ein Tagebuch und Brotaufstriche, weil sie in Gitarama nur eine Sorte Käse bekommt.
Weil Sophie und ihre Mitbewohnerin die ersten sind, die bei dieser Hilfsorganisation arbeiten, ist vieles chaotisch. Ihre Arbeit im Büro betrachtet sie eher als Beschäftigungstherapie. Gefordert ist sie nicht wirklich. „Aber ich schein’ meiner Kollegin mächtig unter die Arme zu greifen“, erzählt sie. Immer wieder hat sie Tage oder Nachmittage frei, weil es für sie nichts zu tun gibt. Blick ins Krankenhaus war ein Schock Spannender sind für sie die Besuche in den Familien mit behinderten Kindern, die sie begleiten darf. „Viel versteh’ ich da nicht, weil Kinyarwanda geredet wird, aber ich sehe viel vom Land und von den Leuten “, freut sich Sophie − auch wenn es keineswegs nur schöne Dinge sind, die sie zu sehen bekommt. Kürzlich konnte sie sich in einem Krankenhaus umsehen und war ziemlich schockiert über die Zustände. „Durchhänger gibt es immer wieder“, gesteht sie. Vor allem der Anfang war sehr hart: „Hier ist einfach alles anders und man steht auf einmal total auf eigenen Beinen, muss sich um alles selber kümmern“. Mittlerweile kommt sie sehr gut zurecht, weil sie vieles gelernt hat − zuwarten etwa. Ruanda hat der 20-jährigen Europäerin gezeigt, wie man mit wenigem auskommt, wie man sich mit dem begnügt, was man hat. Und dass es wichtig ist, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen und sich über Kleinigkeiten zu freuen. „Wir haben uns wahnsinnig gefreut als wir endlich einen Duschschlauch hatten oder festgestellt haben, dass unser Haus ziemlich wasserdicht ist.“
„Ich habe gelernt, mein Leben zu schätzen, weil ich hier so viel schreckliche Armut gesehen habe“. Afrikamache schnell bewusst, wie gut es einem in Europa geht. Was sie für die nächste Zeit erwartet? „Eigentlich gar nichts“, in Afrika könne man einfach nicht langfristig planen, weil doch alles anders kommt. Ohne Erwartungen läuft man weniger Gefahr enttäuscht zu werden: „Es kommt was kommt!“
M2: Bilder von den jungen Leuten, die im Entwicklungsdienst tätig sind
M3: Didaktische Impulse
1. Könntest du dir vorstellen, nach der Schule ein Jahr ins Ausland zu gehen und dort in der Entwicklungshilfe tätig zu sein?
2. Hast du Freunde oder Bekannte, die auch in der Entwicklungshilfe arbeiten? Befrage sie nach ihren Motiven!
3. Welche Vor- und Nachteile kann die Arbeit in der Entwicklungshilfe (z.B. nach der Schule) mit sich bringen?