Senyk, Helga
Thema: Krankheit, Tod
M1: PNP, 30.8.2014, Nr. 100, S. 3
Ich bin da
Einfach am Bett sitzen und zuhören: Das macht Helga Senyk aus Altötting seit 17 Jahren. Sie begleitet Schwerstkranke und Sterbende.
von Christina Schönstetter
Josef Weber* starb. Das sahen die Pflegerinnen. Josef Weber war unruhig in seinem Bett, seine Bewegungen fahrig. Doch er konnte nicht sterben. Josef Weber hatte keine Familie, er war allein und er hatte Angst. Da griffen die Pflegerinnen im St. Klara Heim schließlich zum Telefon und riefen bei Helga Senyk an. "Könntest du nicht kommen?", fragten sie, und eine halbe Stunde später war die Sterbebegleiterin da. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Josef Webers Bett, dorthin, wo sie schon viele Male gesessen hatte und wo ihr der schwerkranke Mann Stück für Stück seine Lebensgeschichte erzählt hatte. Vorsichtig berührte sie seine Hand, die auf der Bettdecke lag, und Josef Weber starb.
"Er hat auf dich gewartet", sagten die Pflegerinnen später zu Helga Senyk. Josef Weber war einer der ersten Menschen, die die heute 60 Jahre alte Altöttingerin beim Sterben begleitete, doch seitdem hat sie vielen Menschen auf den letzten Metern ihres Lebens zur Seite gestanden. Allein sein will kaum jemand, wenn es zu Ende geht.
Helga Senyk ist ehrenamtliche Hospizbegleiterin des Hospizvereins Altötting. Seit 17 Jahren springt sie ein, wenn Angehörige nicht mehr können oder wenn ein sterbender Mensch niemanden hat. Stationär im St. Klara Heim Altötting oder ambulant bei den Patienten zu Hause. Beim Gespräch mit der Passauer Neue Presse kommt sie gerade von einer Nachtwache. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, denn sie saß bis zum Morgen am Bett eines sehr kranken Mannes. "Menschliche Zuwendung, Ruhe, einfach zu sagen: ,Ich bin da‘, das ist meine Aufgabe", sagt Senyk. "Dass jemand Zeit hat und für einen da ist, das brauchen die Patienten."
Die Palliativabteilung ist Endstation. Das wissen die Patienten, das wissen die Pflegekräfte. Helga Senyk hat früher Krankenbesuche gemacht, den Menschen Hoffnung auf Heilung und Zuversicht gespendet. Darum geht es bei Hospizarbeit nicht mehr. "Hoffnung geben, das ist bei Schwerstkranken anders", sagt sie. Was Sterbebegleiter wissen müssen, worauf sie gefasst sein können und beachten müssen, das lernen sie in ihrer Ausbildung in 140 Kursstunden. Wie Hoffnung spenden für Todkranke geht, das kann ihnen niemand beibringen. "Das muss man in sich haben", ist Helga Senyk überzeugt.
Die Hausfrau und Mutter verfügt über diese Empathie. Doch sie ist überzeugt, dass viele Menschen ebenso Sterbenden helfen könnten, wenn sie sich denn trauten in unserer Gesellschaft, die ein beinahe feindliches Verhältnis zum Tod hat. "Für uns ist nur Spaß wichtig, das Leben und der Genuss. Tod und Sterben wird auf die Seite gestellt", sagt Helga Senyk. "Aber den Tod kann man nicht abschalten." Auch mit ihrem Leben war er immer verwoben: Sie musste mit dem Tod ihrer vier Geschwister klarkommen, zwei Schwestern starben nur wenige Tage nacheinander.
Die Hospizbewegung soll dem Sterben mehr Raum geben und mehr Würde. "Und Menschlichkeit", sagt Helga Senyk. Im Hospizverein Altötting sind 35 Hospizbegleiterinnen tätig – ausschließlich Frauen. Fast alle haben persönliche Erfahrungen gemacht, die sie veranlasst haben, sich der Begleitung Schwerstkranker zu widmen. Als Helga Senyk in den 1990er Jahren Krankenbesuche machte, erlebte sie immer wieder, dass Kranke eben nicht mehr gesund wurden. "Ich fühlte mich so hilflos, ich wusste nicht, wie ich mit diesen Menschen umgehen soll", erzählt die 60-Jährige. Deshalb hat sie an den ersten Fortbildungen des damals neu gegründeten Hospizvereins teilgenommen. "Ich wusste dann: Das ist das, was ich machen kann. Krankenbesuche können viele machen, doch die Sterbenden begleiten – das kann ich beitragen."
Sterben gehört seitdem stärker zu Helga Senyks Leben als bei den meisten Menschen. "Vieles im Leben relativiert sich durch meine Arbeit. Über kleine Dinge rege ich mich nicht mehr auf." Bei der Sterbebegleitung, betont die Altöttingerin, geht es nicht nur um den Patienten. Mindestens ebenso wichtig ist die Begleitung für die Angehörigen, die meist noch nie in so einer Situation waren. Wie geht sterben? Was muss danach geschehen? Viele Fragen, die Helga Senyk beantworten kann. "Ich bringe einfach Ruhe hinein", sagt sie. Selbst wenn sich die ganze Familie am Sterbebett versammelt hat, sind die Angehörigen oft dankbar für ihre Anwesenheit. "Ich sage dann zu den Leuten, dass sie sich für ein paar Stunden hinlegen können, während ich bei dem Patienten bleibe. Das gibt den Angehörigen eine Auszeit, die sie dringend brauchen", sagt die Sterbebegleiterin. Und wenn der Tod gekommen ist, dann weiß sie, was zu tun ist: dass der Arzt nicht sofort geholt werden muss, sondern dass sich die Hinterbliebenen in aller Ruhe verabschieden dürfen.
Für die Sterbenden ist Helga Senyk eigentlich eine Fremde. "Sie haben ein ganzes Leben gelebt und ich war die letzten fünf Minuten mit dabei", sagt sie. Es überrascht sie trotz ihrer langjährigen Erfahrung immer wieder, wie sehr sich die Patienten öffnen. "Sterbende fühlen es meist, dass ihre Zeit da ist", sagt die Sterbebegleiterin. "Und dann kommen häufig Gefühle, Erlebnisse, Erfahrungen, die nicht verarbeitet wurden, wieder hoch." Manchmal wollen die schwerkranken Menschen einfach nur reden in den Tagen oder Wochen vor dem Tod, oft haben sie Angst, was mit den Menschen passiert, die sie zurücklassen. "Wir ermutigen die Angehörigen, zu den Patienten zu sagen: Es ist in Ordnung, ich komme zurecht, du kannst gehen. Wir machen ihnen Mut, Dinge zu sagen, die sie sich nicht ansprechen trauen."
Helga Senyk kann gut umgehen mit dem Tod. Das sei einfach so, sagt sie. Andere Sterbebegleiter verarbeiten ihre Erfahrungen beim Spazierengehen oder brauchen Rituale, damit sie mit dem Sterben in ihrer nächsten Nähe zurechtkommen. Helga Senyk ist in ihrem katholischen Glauben tief verwurzelt, doch vor allem sieht sie täglich, wie wichtig ihre Arbeit ist. "Manchmal blühen todkranke Leute noch einmal kurzzeitig richtig auf, wenn sie diese menschliche Zuwendung bekommen", erzählt sie. Sie spricht mit den Patienten über die schönen Zeiten, die sie hatten, ruft Erinnerungen wach, von denen sie der Altöttingerin am Bett erzählt haben. "Wissen Sie noch, als sie damals in Urlaub waren? Da waren sie doch so glücklich", sagt sie dann. Ein paar Tage noch das Leben genießen können – wenn Helga Senyk das für ihre Kranken erreicht, dann ist das genug.
*Name von der Redaktion geändert.
M2: Bilder von Helga Senyk
M3: Didaktische Impulse
1. Entwerft einen Dankesbrief an Frau Senyk mit Argumenten, was ihr an ihrer Arbeit schätzt!
2. Sucht in eurer Umgebung einen Menschen, der sich auch sozial engagiert. Interviewt ihn nach seinen Motiven!