Schwibach, Dieter
Thema: Notfallseelsorge
M1: PNP, 10.12.2011, Nr. 285, S.10
Unfallserie an Schule: Wie den Jugendlichen jetzt geholfen wird
Drei Schüler tödlich verunglückt − Krisenseelsorger kümmern sich um die Mitschüler
Von Christian Wanninger
Fassungslosigkeit prägt das Leben an der Fachoberschule und Berufsoberschule in Pfarrkirchen, nachdem am Mittwoch in Rotthalmünster wieder einer ihrer Schüler bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam – der dritte seit Ende September. Wie kann eine Schulfamilie diese dramatischen Ereignisse aufarbeiten? Damit dies bei all der Trauer, all dem Entsetzen und der Niedergeschlagenheit gelingt und möglichst bald wieder ein halbwegs normaler Alltag einkehren kann, tut die FOS/BOS alles. Und sie ist dabei nicht allein.
Patrick C. (17) aus Aigen am Inn (Landkreis Passau) war am Mittwochmorgen von einem Auto erfasst und in den Straßengraben geschleudert worden, als er auf seine Mitschüler gewartet hatte. Patrick erlag seinen schweren Verletzungen. Der Unfallfahrer (59) ließ den jungen Mann einfach liegen und flüchtete. Er konnte jedoch später von der Polizei gefasst werden. Der Mann sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Er war zur Zeit des Unfalls betrunken.
Kooperation mit der Polizei getragen von der Diözese Passau ist seit 2004 ein inzwischen gut funktionierendes Netzwerk entstanden, das bei Todesfällen Schulen und dem Umfeld der Opfer zur Seite steht – sofern dies gewünscht wird: die Krisenseelsorge im Schulbereich (KiS), in enger Kooperation mit dem System der Notfallseelsorge.
17 ehrenamtliche und entsprechend geschulte (z. B. in Psychotraumatologie) staatliche und kirchliche Lehrkräfte hat der Diözesanbeauftragte für KiS, Josef Zimmermann – verteilt auf das gesamte Bistum. Treten extrem belastende Situationen wie z. B. tödliche Unfälle auf, steht KiS bereit. In enger Kooperation mit der Polizei als wichtigstem Partner. "Es ist ein Angebot, das alle Arten von staatlichen und kirchlichen Schulen annehmen können", sagt der 44-Jährige, der Referent für Schulpastoral im Bistum Passau ist. KiS wolle sich nicht aufdrängen, die Entscheidung liege beim Schulleiter.
Im Fall der Unfallserie an der FOS/BOS war Zimmermann selbst eingeschaltet und gemeinsam mit Dieter Schwibach (52), dem Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge vor Ort. Wie muss man sich dieses Angebot vorstellen? "Grundsätzlich wollen wir ein Schulsystem dabei unterstützen, mit dem plötzlichen Tod gut umzugehen", sagt Schwibach. In der Regel arbeiten immer zwei KiSler im Team, führen zuerst Gespräche mit Schulleitung und Lehrkräften, um auch sie vorzubereiten und ihnen zu helfen, etwa wenn es um das Überbringen einer Todesnachricht geht. "Alle Lehrer brauchen einen gleichen Kenntnisstand. Informationen über solche Unfälle machen nicht an einer Klassenzimmertüre halt", so Zimmermann. Nicht zu vergessen: "Wir müssen sehen, ob der Verstorbene Geschwister oder eine Freundin in anderen Klassen oder an anderen Schulen hat und dann dort weitere Kollegen einsetzen."
In einem gemeinsamen Vormittag mit der betroffenen Klasse und allen, die daran teilnehmen wollen, arbeiten die KiS-Mitarbeiter dann mit den Schülern, haben ein bestimmtes Gerüst für solche Fälle im Kopf, reagieren aber ganz individuell. Zimmermann: "Es ist eine Frage des Alters. An weiterführenden Schulen wie jetzt an der FOS/BOS sagen die Betroffenen schon auch selbst, was sie momentan brauchen. Und wir versuchen, sensibel darauf zu reagieren." Entscheidend zu Beginn ist nach den Worten Schwibachs, dass alle relevanten Fakten auf den Tisch gelegt werden. Alle Fakten, die nötig sind – nicht verfälschend, aber moderat. Klare Informationen von der Polizei, die "für einen Boden sorgen und Spekulationen verhindern".
Und dann gelte es, das Entsetzen mitauszuhalten: "Kein Aktionismus, Tränen laufen lassen und versuchen, nach der Ohnmachts-Reaktion wieder Alltagsfähigkeit herzustellen." In der Praxis heißt das z. B.: In Erinnerungen gehen. Wie war der Tote? Was haben wir alles geschätzt an ihm? Erzählen lassen, lautet die Devise. Immer wieder sorgen die KiS-Mitarbeiter dabei auch für Freiräume, in denen sie den Wunsch nach Einzelgesprächen erfüllen können.
Mit zu diesem Vormittag gehört am Schluss meist ein Ritual: Kerzen entzünden, ein Bild des Verstorbenen aufstellen, Gedanken aufschreiben, einen Gottesdienst planen – oder einfach ein Vater Unser beten. "Gerade die Vorbereitung der Beerdigung ist fast immer etwas, das den Klassenkameraden besonders wichtig ist", wissen Zimmermann und Schwibach aus ihrer Erfahrung. Dann endet die Arbeit von KIS. In der Regel.
Zimmermann: "Wir stehen zwar weiter bereit, aber im Normalfall können die Lehrkräfte vor Ort die weitere Unterstützung der Schüler übernehmen. Denn es geht um die Rückführung in die Alltäglichkeit, in den Unterrichtsalltag." Aber es gibt auch andere Situationen. "Ich habe schon erlebt, dass Schüler drei Tage später mit mir zu dem Ort wandern wollten, wo sich der Verstorbene am liebsten aufhielt", erzählt Schwibach. "Dann haben wir eine Wallfahrt dorthin und wieder zurück unternommen."
Die Pfarrkirchner FOS/BOS hat nicht nur jetzt, sondern auch schon nach den beiden anderen Unfällen, bei denen zwei ihrer Schüler ums Leben kamen, mit dem Krisenseelsorge-Team der Diözese zusammengearbeitet. Und sich offenbar für verschiedene Maßnahmen entschieden, wie man den Weg zurück in den Alltag finden kann. Nach Informationen der PNP ist z. B. die Klasse, die nach September nun zum zweiten Mal vom Tod eines Mitschülers getroffen wurde und die aus Platzgründen in die Hauptschule ausgelagert war, inzwischen ins Haupthaus zurückgeholt worden. Zum anderen steht auch fest, dass man voraussichtlich noch vor den Weihnachtsferien einen Gedenkgottesdienst für alle drei verstorbenen Schüler abhalten wird. Beides Schritte, die Schwibach und Zimmermann ausdrücklich begrüßen.
Zu Details, wie sie mit der FOS/BOS darüber hinaus diese tragische Serie an Todesfällen aufarbeiten, wollen sie in der Öffentlichkeit nichts sagen: "Die Schulfamilie braucht jetzt Zeit für sich, und nicht für die Medien oder andere." Nur soviel: "Was man in dieser Situation für Schüler und auch Lehrer tun kann, macht die FOS/BOS. Und zwar vorbildlich."
M2: PNP, 28.08.2013, Tageszeitung, Nr. 198, S. 3
"Es braucht eine Art Trauerjahr" - 140 Seelsorger nach Flut im Einsatz
Notfallseelsorger Dieter Schwibach hat während der Flutkatastrophe vielen Opfern Beistand geleistet und ihre Verzweiflung hautnah miterlebt. Mit seinen Kollegen sorgt er dafür, dass Betroffene auch in den kommenden Monaten noch Ansprechpartner finden.
von Sebastian Fleischmann
Dieter Schwibach kratzt sich am Kinn. Er muss nicht lange überlegen. Eine vergleichbare Situation hat er in seinen zwölf Jahren als Beauftragter der Diözese Passau für die Notfallseelsorge noch nicht erlebt. Nicht annähernd. Schon allein eine bloße Zahl verdeutlicht das Ausmaß der Ereignisse: Insgesamt 140 Notfallseelsorger seien während der Hochwasserkatastrophe in den Regionen Passau und Deggendorf im Einsatz gewesen. Seelischer Beistand im Akkord.
Schwibach, 53, tiefe ruhige Stimme, von stattlicher Statur, wirft so leicht nichts aus der Bahn. Das während der Flutkatastrophe Erlebte hat aber selbst er gut zweieinhalb Monate nach der Flut noch nicht ganz verdaut. Normalerweise arbeitet der Diplom-Theologe als Pastoralreferent in Pfarrkirchen. Als "Chef" der diözesanen Notfallseelsorge stand er während der Katastrophe stets in engem Kontakt mit dem Krisenstab oder war bei den Besprechungen sogar dabei.
Viele drohten aus Hilflosigkeit mit Suizid
Die Verzweiflung, der Schwibach und seine Kollegen begegneten, war vielerorts groß. In den Tagen nach der Flut habe es viele Suizid-Androhungen gegeben. "Das waren verzweifelte Aufschreie aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus", erklärt Schwibach. In die Tat umgesetzt habe das geäußerte Vorhaben gottlob niemand. Allerdings habe man jeden einzelnen Fall ernst genommen und den Menschen beigestanden – "so lange, bis das soziale Netz wieder tragfähig war", sagt Schwibach. Dann habe man die weitere seelische Aufbauarbeit wieder Familie, Freunden und Bekannten der Betroffenen überlassen. Dass generell niemand durch die Katastrophe zu Tode gekommen ist, grenzt für ihn an ein Wunder.
Derlei "Akuteinsätze" waren allerdings eher die Ausnahme: "Wir waren wie Streetworker unterwegs", beschreibt Schwibach den Ablauf für die Seelsorger während der 19 Tage des Katastrophenzustands in Passau. Wie Straßensozialarbeiter, die sich in der Regel um Jugendliche in Brennpunktvierteln kümmern, seien er und seine Kollegen einfach vor Ort gewesen. Als Ansprechpartner, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, über das Erlebte zu reden. Geholfen habe dabei oft ein einfaches Mitbringsel: "Wir hatten Energy-Drinks in Dosen dabei", erklärt Schwibach. Diese seien der "Türöffner" gewesen. Die Menschen hätten dafür mitten in den Aufräumarbeiten für einen Moment innegehalten. Dankbar für das kraftspendende Getränk – und verständnisvolle Zuhörer. "Darüber zu reden hilft den Menschen, die Dinge selbst einordnen zu können", erklärt Schwibach.
Das gilt auch für die Seelsorge-Kräfte selbst – an jedem Abend habe es eine gemeinsame Reflexionsrunde gegeben. Indem sie sich ihre Begegnungen und Erlebnisse mit den Flutopfern untereinander schilderten, sammelten auch sie neue Kraft. Und Schwibach als Koordinator konnte dem Krisenstab ein Stimmungsbild direkt von den Betroffenen liefern. "Dieser Austausch von oben nach unten und andersherum hat gut funktioniert", resümiert der Diplom-Theologe. In dieser Form sei das in den vergangenen zehn Jahren neu organisierte Krisenmanagement zum ersten Mal zum Einsatz gekommen. Und habe sich bewährt.
Ein wiederkehrendes Schema hat der 53-Jährige über die knapp drei Wochen des Katastrophenzustands ausgemacht: "Für die Menschen gibt es eine Zweiteilung: die Zeit vor der Flut und die Zeit nach der Flut." Vieles, was dem Einzelnen wichtig gewesen sei, sei zerstört worden. "Die Menschen haben ihre Existenz sterben sehen", verdeutlicht Schwibach. "Mit ihren Häusern haben viele Heimat verbunden." Für viele habe so zwangsläufig der Weg in ein neues Leben begonnen.
Und dieser Weg sei ein längst noch nicht abgeschlossener Prozess, weiß Schwibach. "Das ist noch nicht vorbei", warnt er. Als nichts weniger als ein "kollektives Trauma" bezeichnet Schwibach das, was in den Regionen Passau und Deggendorf in jenen schicksalhaften Tagen im Juni erlebt hätten. Deshalb müsse man den Menschen trotz der langsamen Rückkehr zum Alltag weiter Zeit zugestehen, die Dinge einzuordnen und zu verarbeiten – zumal nach wie vor viele mit Renovierungsarbeiten voll ausgelastet seien und bisher kaum Zeit zur Reflexion gehabt hätten.
Seine Lehre: Heimat an Menschen festmachen
"Es braucht eine Art Trauerjahr", meint Schwibach daher – ähnlich, wie nach dem Tod eines Angehörigen. Dazu gehört für ihn ein weiterhin großes Angebot an niedrigschwelligen, sprich: für jedermann einfach zugänglichen, psychotherapeutischen Hilfen. Von Flut-Gottesdiensten bis hin zu professionellen Gesprächsangeboten. Das gelte nicht nur für die Betroffenen: "Auch die fleißigen Helfer darf man nicht allein lassen", sagt er. Denn der erfahrene Notfall-Seelsorger glaubt, dass nicht jeder die gesehene Not einfach so von heute auf morgen verarbeitet. So plädiert er etwa auch für dauerhafte Gesprächsangebote für die Studenten – sowohl während der Semesterferien als auch im neuen Semester.
Einiges sei auch bereits in die Wege geleitet worden. "Wir haben mit den Deggendorfern eine Aktionsgemeinschaft gegründet", berichtet Schwibach. Mit dem Malteser Hilfsdienst als treibende Kraft hätten sich die Notfallseelsorge der Diözesen Passau und Regensburg, die Caritas sowie die Kliniken in Deggendorf zusammengetan, um für die Flutopfer vor Ort weiterhin greifbar zu sein. "Wir sind mit einem Bus jede Woche in Fischerdorf und Natternberg, um die Menschen weiter zu begleiten", beschreibt er.
Auch Dieter Schwibach selbst – obwohl persönlich als Pfarrkirchner nicht betroffen – versucht, seine Konsequenzen aus der Flutkatastrophe zu ziehen. Für sich versuche er künftig, sein Heimatgefühl weniger mit materiellen Dingen wie Haus oder Garten zu verbinden, sondern mehr mit seiner Familie, dem Freundeskreis oder Hobbys wie Sport, erklärt der Vater zweier erwachsener Kinder. Denn wie dieses Gefühl von Heimat und Sicherheit für Tausende Menschen quasi über Nacht ins Wanken geraten kann, hat er als Seelsorger im Katastrophengebiet hautnah miterlebt. Schwibach: "Das verändert einen auch selbst."
M3: Bilder von der FOS / BOS Pfarrkirchen, Dieter Schwibach und Josef Zimmermann
M4: Didaktische Impulse
1. Diskutiert in der Klasse, was Personen auszeichnet, die sich bei KiS (Krisenseelsorge im Schulbereich) engagieren?
2. Welche Vorteile hat KiS?
3. Wie kann man in der Klasse dazu beitragen, einen Todesfall besser zu verarbeiten? Zählt verschiedene Möglichkeiten auf.
4. Schreibt ein paar Zeilen an eine(n) Mitarbeiter(in) von KiS, in denen Ihr Eure Bewunderung für diesen zum Ausdruck bringt. (Vielleicht ist es möglich, diesen Brief tatsächlich an die Person zu schicken)
5. Ladet mit Unterstützung der Lehrkraft eine(n) Mitarbeiter(in) von KiS in die Religionsstunde ein und führt ein Interview mit diesem/dieser?