Schauer,Evi
Thema: Lebensretter
M1: PNP, 10.09.2012, Nr. 209, S.3
Das sind die PNP-Kavaliere der Straße 2012
Von Ariane P. Freier
Evi Schauer (30) aus Neukirchen vorm Wald genügt an jenem verhängnisvollen Ostermontag ein Blick, um intuitiv zu erfassen, was zu tun ist − der Blick einer Mutter. Das kleine blonde Mädchen liegt im Straßengraben, die Augen geschlossen, die Lippen blutverschmiert. Es wimmert.
Während ihr Mann Christian Schauer (34) Kurs auf die qualmenden Autos nimmt, die den Autobahnzubringer nahe Aicha vorm Wald total blockieren, stürzt Evi Schauer zu dem Mädchen, das rücklings auf dem von Regen durchnässten, schlammigen Boden liegt. "Sie musste brechen", erinnert sich die Verkäuferin, die mit Mann, Sohn und Hund von einem Familienbesuch in Viechtach zurückgekehrt war, "also habe ich sie vorsichtig auf die Seite gedreht."
Dann versucht die junge Mutter, sich das schwerstverletzte Kind wie mit Samthandschuhen auf den Bauch zu legen. Ein Unbekannter kommt zu Hilfe, wirft den beiden eine wärmende Jacke über. Evi Schauer kann den Herzschlag des Mädchens nicht spüren, aber die kleine, kalte Hand krallt sich um einen ihrer Finger.
Wie durch einen Schleier sieht die Neukirchnerin, wie andere Helfer verzweifelt versuchen, die verunglückte Beifahrerin aus dem Auto zu schneiden. Es ist die große Schwester des Kindes, Lisa (15). Sie wird es wie ihr Freund Florian (20), der Fahrer, nicht schaffen. Evi Schauer kann sehen, wie der Rettungshubschrauber landet, sie hört, wie der Unfallgegner (27) aus Landshut über Genickweh klagt.
"Ich habe einfach nur funktioniert", sagt sie und ist noch immer beeindruckt vom perfekten Zusammenspiel der vielen helfenden Bürger − etwa jener jungen Frau, die mit einem Feuerlöscher unterwegs war, oder von den professionellen Hilfskräften. "Alle wie ein eingespieltes Team." Unterdessen habe sie das zitternde Kind immer wieder gewärmt, gestreichelt und ihm sanft zugeredet, erinnert sich Evi Schauer. Als der Kleinen erneut übel wird, sorgt die 30-Jährige dafür, dass sie nicht am eigenen Erbrochenen erstickt. Das klägliche Stöhnen zerreißt ihr fast das Herz, aber das zarte Wesen schnauft wenigstens. Und dann − nach einer gefühlten Ewigkeit von etwa 15 Minuten − taucht ein Sanitäter bei ihnen auf. Er rüttelt die Dreijährige vorsichtig, lässt sie in den Rettungswagen bringen. Sie ist bewusstlos. Wochen wird das Kind im Koma liegen − aber gesunden.
Für Evi Schauer, ihren Mann und Sohn Sebastian (11), der während des Unfalls den Familienhund im Auto beaufsichtigt hat, ist der Hilfseinsatz damit zunächst vorbei. "Wir sind unter dem Eindruck des Schreckens heimgefahren, um nicht auch noch im Weg zu stehen", erzählt Evi Schauer, die zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt auf diese Weise gefordert wurde − und ohne zu überlegen angepackt hat.
"Erst aus der Passauer Neuen Presse haben wir erfahren, was eigentlich passiert ist − und dass uns die Polizei sucht." Weil sich die Mutter des Mädchens, Kerstin Klingenheben (42), bedanken möchte − für den aktiven Beistand voller Wärme und Geborgenheit in den schlimmsten Lebensminuten ihres Töchterchens. "Ich bin Frau Schauer extrem dankbar, dass sie für Celine da war", sagt sie, "und wenn es jemand verdient hat, als Kavalier der Straße ausgezeichnet zu werden, dann sie."
Evi Schauer hat auch erst aus der Zeitung erfahren, dass der kleine Blondschopf, dem sie mit ihrer Aufmerksamkeit das Leben gerettet hat, Celine heißt. Denn als sich die Helferin Sorgen und Gedanken um das Wohlbefinden des Unfallopfers macht und im Krankenhaus anruft, bekommt sie als Fremde natürlich keine Auskunft. Erst später erfährt sie: Celine geht es wieder gut. Sie kann den Kindergarten besuchen, herzhaft lachen − und behält keine bleibenden Schäden zurück. Kerstin Klingenheben hat Evi Schauer Fotos von Celine geschickt. Am 30. September wird sie vier Jahre alt.
Spontan "aus dem Herzen heraus" habe sie einen mehrseitigen Brief an Celines Schutzengel geschrieben, erzählt Kerstin Klingenheben. Gerade auch, weil es so gut tue zu merken, "dass man nicht allein ist". Die große Einsatzbereitschaft aller Helfer hat ihr Vertrauen und Kraft gegeben. "Ich möchte mich gern mit Frau Schauer treffen, ich hätte so viele Fragen", sagt sie. "Aber noch fehlt mir die Kraft für Antworten." Der Schmerz über den Verlust der älteren Tochter und des jungen Mannes sitzt tief.
Evi Schauer wird warten − und sie lässt keinen Zweifel daran, jederzeit wieder zu helfen − dann übrigens auch ganz offiziell als ein "Kavalier der Straße".
Es ist sein Bauchgefühl. "Du, der Rauch da ist nicht normal. Da stimmt was nicht." Helmut Mayer (41) und seine Frau Christa (39) aus Buchhofen sind auf dem Heimweg von einem Abendessen mit Freunden, als sie am 8. August 2011 an der Lahrstraße vorbeifahren und bereits den Ortsausgang von Osterhofen passiert haben. "Unvorstellbar viel weißer Rauch und Gummigeschmack" lassen dem BMW-Mitarbeiter keine Ruhe. Er wendet.
An der Unfallstelle scheppert es, ein Motor jault auf, Passanten stehen staunend am Rand. "Das geht schon eine halbe Stunde so", meint einer. Doch die Sicht ist völlig vernebelt, die Zuschauer sind anscheinend paralysiert. Im Licht entgegenkommender Scheinwerfer entdeckt Helmut Mayer plötzlich einen Chrysler Stratus, der mit Vollgas gegen parkende Autos rauscht − vor und zurück, vor und zurück. Als der Wagen stehen bleibt, knallt es, Funken sprühen.
"Ich habe nur gedacht, du brauchst einen Feuerlöscher und bin losgerannt", sagt Mayer, der als Feuerwehrler in Buchhofen mehr mit Hochwasser als mit Bränden zu tun hat. Geistesgegenwärtig schleppt er aus der nahen Fachklinik für Amputationsmedizin das Gerät herbei, tastet sich den Geräuschen nach durch den Nebel zum Auto und beginnt, den brennenden Motor zu löschen.
Lebensretter Helmut Mayer und seine Frau Christa (Bild links) aus Buchhofen erhalten die Auszeichnung "Kavalier der Straße". Er löschte mit einem Feuerlöscher ein Auto, in dem ein Mann kollabiert war und rettete diesem das Leben. Ebenfalls als Retter ausgezeichnet werden Luigi Hirshy-Stepich (v.l.), Christian Schneeberger und Piotr Jaskiewicz zogen Wilfried Dostert aus einem brennenden Auto.
Unterdessen sind drei weitere Männer dazugestoßen − Christian Schneeberger (31), dessen Schwager Piotr Jaskiewicz (42) und der Kollege und entfernte Verwandte Luigi Hirshy-Stepich (32). Ein Neffe Schneebergers, dessen Wohnhaus nur wenige Meter vom Markt entfernt liegt, hatte den 31-Jährigen hilfeflehend angerufen.
Die Männer reißen die Tür auf, können den Verunfallten aber nicht sofort befreien. Der Gurt hat sich verhakt. Der Mann − ein Reha-Patient der Amputationsklinik − ist durch Unterzucker bewusstlos, steht mit dem Fuß auf dem Automatik-Gaspedal. Christian Schneeberger bekommt einen Hustenanfall, muss kurz Luft schnappen, Luigi Hirshy-Stepich schreit nach einem Messer. Das scheint sowohl die Passanten als auch die Polizei zu irritieren, die inzwischen eingetroffen ist. Terroranschlag? Amoklauf? Suizid?
Die Zeit verfliegt, die Hitze ist unerträglich. Endlich können die Helfer den Mann (53) aus dem Auto ziehen. Es ist höchste Zeit: "Die Flammen fingen gerade an, unter dem Lenkrad hindurchzuzüngeln", sagt Helmut Mayer. Ein trockener Husten überkommt auch ihn. Er wird später mit dem Verunglückten ins Krankenhaus gebracht − Verdacht auf Rauchvergiftung. Doch alles wird gut.
"Während des Einsatzes habe ich immer nur gedacht ,Hoffentlich explodiert das Auto nicht‘", sagt Christa Mayer. Doch ihr Mann und das Trio aus der Lahrstraße verschwenden daran keinen Gedanken. Das Quartett hat wie automatisiert gehandelt. Helmut Mayer: "Ich wollte nur, dass der Mann nicht verbrennt." Dann machen sich die Helfer auf den Heimweg. "Helfen", denkt Luigi Hirshy-Stepich bescheiden, "ist keine Heldentat. Das braucht keinen Presserummel und auch nicht ausgezeichnet zu werden."
Der Gerettete − Wilfried Dostert, ein Frührentner aus der Nähe von Trier − erfährt erst am nächsten Tag über seinen Arzt und die Zeitung, was passiert ist. "Meine Insulinpumpe hatte einen Defekt", erklärt er die Umstände. Er ist sich der Bedeutung des kontrolliert-riskanten Zupackens bewusst. "Da hatte ich früh genug Glück im Unglück." Was Wilfried Dostert nicht weiß, ist, dass neben Helmut Mayer drei weitere Männer an der Bergung beteiligt waren. Im Krankenwagen hatte er nur flüchtig Mayer kennengelernt und war in der Folge mehrmals beim Ehepaar vorstellig geworden. "Leider war Herr Mayer nie da, aber ich hoffe, dass die beiden gern einen guten Wein trinken." So hinterließ Wilfried Dostert vor einiger Zeit einige Flaschen Moselwein und einen Zettel, dass er dieser Hilfe sein Leben zu verdanken habe. "Das ist die schönste Auszeichnung überhaupt für mich", sagt Mayer. Den Zettel hat er sorgfältig aufbewahrt.
"Der größte Fehler ist es, nicht zu helfen". Für Wilfried Dostert ist der Fall aber nicht abgeschlossen. Jetzt, da er durch die Zeitung die Namen kennt, möchte er auch seinen anderen drei Helden danken: "Auf jeden Fall ist es sehr, sehr gut, dass diese Männer als Kavaliere der Straße offiziell Anerkennung finden", sagt er. Leider sei das ebenso selten wie selbstloses Handeln selbstverständlich sei. "Helfen würden sicher viele gern", meint Helmut Mayer, "aber vielleicht haben manche Angst, Fehler zu machen." Doch in einem sind sich alle Männer einig: "Der größte Fehler ist es, nicht zu helfen."
M2: Bilder der Lebensretter
M3: Didaktische Impulse
1. Lest Euch den Text genau durch: Um welche Rettungsaktionen handelt es sich?
2. Versucht die Gefühle der Helfer nachzuempfinden: Welche Emotionen haben die Retter wohl beim Anblick der Unfallstelle? Der Verletzten? Während ihrer Hilfe? Wie fühlen sie sich wohl, nachdem sie das Geschehene realisieren? Welche Gedanken schießen ihnen durch den Kopf?
3. Haben die ausgezeichneten Helfer Eurer Meinung nach die Auszeichnung "Kavaliere der Straße" verdient? Wenn ja, warum? Was macht deren Hilfe für Euch so besonders?
4. "Der größte Fehler ist es, nicht zu helfen": Was bedeutet dieser Satz für Euch? Teilt Ihr diese Meinung? Würdet Ihr ebenfalls spontan helfen? Wart Ihr selbst schon einmal in einer ähnlichen Lage und habt Jemandem geholfen oder das Leben gerettet? Wenn ja, was ging dabei in Euch vor?
5. Stellt Euch vor, Ihr trefft die Retter: Welche 3 Fragen würdet Ihr diesen stellen? (Schreibt diese auf!)