Saller, Peter
Thema: Organspende, Unfall
M1: PNP, 08.01.2010, Nr. 8
Warum das Herz dieses Vaters so schwer ist
Ein Verkehrsunfall riss Veronika Saller mit erst 19 Jahren aus dem Leben. Ihr Vater stimmte zu, ihr die Organe entnehmen zu lassen. Sechs Menschen konnten damit ein neues Leben beginnen. Eineinhalb Jahre nach dem Tod der Tochter brauchte Peter Saller selbst ein neues Herz.
Von Isabel Metzger
Heiligabend ist ein Tag wie jeder andere für Peter Saller (55) - wie jeder Tag, an dem er seine Tochter vermisst. Vor knapp vier Jahren kam Veronika (19) bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der Schmerz, die bildhübsche Tochter nicht mehr zu sehen, das lebensfrohe und mitreißende Lachen nicht mehr zu hören oder ihrer Posaunenmusik zu lauschen, lässt nicht nach, die Trauer ohnehin nicht. „Diese große, klaffende Wunde geht nie zu“, sagt Peter Saller. „Wenn man dem Kind ins Grab nachschauen muss, das ist das Schlimmste, was einem Elternteil passieren kann.“
„Es war ein ganz normaler Montagmorgen“, erinnert sich der Bad Griesbacher an den Moment, der das Leben seiner Familie aufs Schrecklichste verändern sollte. Die beiden jüngeren Kinder Isabella und Maximilian - heute 17 und 16 Jahre alt - machten sich auf den Weg zur Schule. Veronika fuhr mit dem Auto zum Gymnasium nach Pfarrkirchen.
„Um 8 Uhr 30 stand plötzlich die Polizei bei mir im Hause und teilte mir mit, dass Veronika einen schweren Unfall hatte und ich mit dem Schlimmsten rechnen müsste.“ Der Polizei zufolge hatte sie bei Nebel offenbar überholt und einen entgegenkommenden Wagen übersehen. Der Vater vermutet vielmehr, Veronika habe womöglich etwas auf der Beifahrerseite vom Boden aufheben wollen, sei daraufhin aufs Bankett geraten und habe dann das Steuer verrissen. Der Honda der Tochter krachte in den Gegenverkehr. Die junge Frau musste reanimiert werden. Ein Rettungshubschrauber brachte sie ins Deggendorfer Klinikum.
Peter Saller weiß bis heute nicht, wie er ins Krankenhaus gekommen ist. „Ich
war in einem regelrechten Trancezustand - zwischen Hoffen und Bangen, aber auch gefasst auf die
mögliche Todesnachricht.“
Am Eingang der Intensivstation teilte ihm ein Arzt mit, dass Veronika tot ist. Die Nüchternheit des Mediziners macht den ehemaligen Geschäftsmann, der seine drei Kinder alleine großzog, noch heute wütend und traurig. „Denn der zweite Satz des Arztes lautete: Wir brauchen die Organe Ihrer Tochter.“ Das Schlimmste für ihn war: „Sie wollten sogar ihre Augen.“
„Die schönsten Augen der Welt“
Veronika besaß keinen Organspendeausweis. Mit ihren erst 19 Jahren hatte sie sich nie mit dem Tod auseinandergesetzt. Der Vater sollte entscheiden. Und es war ein schneller Entschluss gefordert.
Auf sein Bitten durfte er an Veronikas Bett. Das Laken verdeckte die vielen Schläuche, durch die die inneren Organe am Leben erhalten wurden. Ein Anblick, der sich in die Seele des Vaters brannte und noch heute Tag und Nacht präsent ist. „Das war fast unerträglich“, sagt Peter Saller. Er bat um etwas Bedenkzeit in einem ruhigen Raum des Krankenhauses. Schließlich stimmte er zu, dass Veronika die Organe entnommen werden: „Ich dachte, dass es auch im Sinne meiner Tochter gewesen wäre.“ Die Augen - „Veronika hatte die schönsten der Welt“ - durften die Ärzte nicht entnehmen.
Mit Veronikas Herz, Nieren, Leber, Lunge, Milz und Bauchspeicheldrüse konnten sechs todkranke Menschen ein zweites Leben beginnen. Die Gewissheit, dass seine Tochter Leben rettete, beschreibt der Vater als „Glücksgefühl“, das ihm in den ersten Stunden und Tagen über vieles hinweghalf.
„Angehörige müssen Tod erst begreifen“
Der Bad Griesbacher kämpft heute dafür, dass sich speziell ausgebildete Transplantationsbeauftragte um die Angehörigen kümmern. „Da braucht man geschulte Fachkräfte, keine coolen, abgebrühten Ärzte.“ Er sei mit der Organspende konfrontiert worden, als er noch gar nicht begriffen hatte, dass sein Kind tot ist. Geschockte, zweifelnde und verstörte Familienmitglieder, die sich womöglich noch nie mit dem Thema auseinandergesetzt haben, würden mit Sicherheit sofort nein sagen, ist Peter Saller überzeugt.
Wie wichtig die Frage ist, weiß er natürlich. „Die Frage ist nicht unzulässig und nicht unzumutbar“, betont Saller. „Sie muss nur einfühlsam gestellt werden.“ Der richtige Zeitpunkt ist seiner Ansicht nach erst dann gegeben, wenn der Angehörige verstanden hat, dass sein geliebter Mensch für immer fort ist. Deshalb sollte zwischen der Todesnachricht und der entscheidenden Frage eine angemessene Zeit liegen.
„Warum immer ich?“: Eineinhalb Jahre nach Veronikas Tod musste Peter Saller erneut einen schweren Schicksalsschlag verkraften. Am 7. Oktober 2007 brach der damals 53-Jährige bei der Gartenarbeit zusammen. „Ich dachte, mich sticht was hinten an der linken Schulter“, beschreibt er die ersten Symptome. Er war schweißgebadet, in der Brust spürte er eine kaum auszuhaltende Enge. Peter Saller hatte einen Herzinfarkt. Die Ursache kann er nur vermuten: „Das muss von dem Kummer und dem Leid gekommen sein.“
Sallers Herz war so schwer geschädigt, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, wann er sterben würde. Auf der Warteliste für Organe wurde der Todkranke als HU (high urgency, sehr dringend) eingestuft, er kam nach ganz oben. Schon am 3. Februar 2008 erhielt Peter Saller in einer achtstündigen Operation im Regensburger Klinikum ein neues Herz. „Das war wie ein Sechser im Lotto.“ Drei Wochen musste er anschließend im Krankenhaus bleiben, dann folgte eine Reha. Die Oma, die im selben Haus wohnt, kümmerte sich in der Zeit um Isabella und Maximilian.
Seit der Transplantation erlebt Peter Saller gesundheitlich Höhen und Tiefen. „Manchmal renne ich drei Stockwerke hoch, dann schaffe ich wieder ein halbes nicht.“ Habe er anfangs noch mit dem Schicksal gehadert und sich immer wieder die Frage gestellt „Warum mein Kind?“, so ziehe er inzwischen Lehren aus seinen schweren Prüfungen. „Die Wertig- und Wichtigkeiten haben sich verschoben.“ Zudem versuche er, intensiver zu leben. Auch seine Wesensart habe sich zum Positiven verändert. Früher war Peter Saller oft ungeduldig. „Wenn was nicht klappte, bekam ich einen Tobsuchtsanfall. Das hab ich heute nicht mehr.“
Die verstorbene Tochter trägt er im Herzen. Die Augen des Vaters leuchten, wenn er sich an ihre Einzigartigkeit erinnert. „Veronika stand mit sechs Beinen im Leben“, erzählt er. Die hübsche, überaus beliebte Blondine, die gern zur Schule ging, habe mit ihrer Lebensfreude jeden mitgerissen. Selbst Mitschüler, die sie nur vom Sehen kannten, hätten sich ins Kondolenzbuch eingetragen.
Selbsthilfegruppe für Herztransplantierte
Ein Marterl in Form einer Sonnenblume erinnert an der Unfallstelle an die 19-Jährige, zu deren Leidenschaften das Posaunespielen zählte. „Veronika liebte Sonnenblumen.“ Der Vater hat das Marterl selbst gefertigt. Ein halbes Jahr nach dem Unglück hatte Peter Saller die Kraft, zum ersten Mal an den Ort zu gehen, an dem sein Kind ums Leben kam. Zuvor hatte er ihn gescheut und Umwege von bis zu 20 Kilometern in Kauf genommen. „Als ich dann dort war, hab ich mit den Händen in der Erde gegraben, um noch irgendetwas zu finden - und wenn es nur ein Glassplitter der Autoscheibe gewesen wäre, um genau zu wissen, wo es passiert ist.“
Peter Saller hat es sich zur Aufgabe gemacht, ähnlich Leidgeprüften zu helfen. Er engagiert sich in der Selbsthilfegruppe für Transplantationsbetroffene mit Sitz in Regensburg. Zusammen mit 40 weiteren Mitarbeitern kümmert er sich um Herzpatienten, sitzt an ihrem Krankenbett und berichtet, was er bereits selbst mitgemacht hat. „Ärzte können keine Sterbenskranken trösten, das können auch keine Pfarrer“, meint Saller. „Das können nur die Menschen, die das erlebt haben.“
Mit Arztforen und Vorträgen klärt die Selbsthilfegruppe über die Organspende auf. „Wir haben in einem halben Jahr über 50 Organspender gewonnen“, freut sich Peter Saller, dessen Motto lautet: „Nimm deine Organe nicht mit in den Himmel. Der Himmel weiß, wir brauchen sie hier!“
M2: Bild von Peter Saller
M3: Ausstellungstafel
Die Ausstellungstafel entstammt der Wanderausstellung "Tolle Typen heute", die ausgeliehen werden kann. Weitere Informationen siehe Wanderausstellung