Mayr, Sonja
Thema: Nächstenhilfe
M1: PNP vom 28.03.2009, Nr.73, S.10
Familienleben mit einem Fremden
Burghauser Diakonie vermittelt psychisch kranke Menschen als Untermieter - Projekt bald auch in Niederbayern
Von Johanna Stummer
Burghausen/Neumark-Sankt Veit. Wenn es nach Jochen Tarasenko geht, hat er sein Zuhause gefunden. Endlich. Jahrelang ist das ehemalige Findelkind von einem Heim zum nächsten gereicht worden. Über 35 waren es wohl insgesamt. Weder weiß der heute 58-Jährige, woher er kommt, noch wer seine Eltern sind. Tarasenko irrte durch sein Leben, ein wenig ist er wohl darüber verzweifelt. Seine Psyche machte nicht mehr mit. Manchmal hörte er Stimmen, ertränkte sie in Alkohol und hatte Wahnvorstellungen. Heute nimmt er Tabletten dagegen, entscheidend für ihn aber war etwas anderes: „Gebt mir ein Zimmer und gebt mir Arbeit, habe ich immer gesagt. Mehr brauche ich nicht“, erzählt der Neumarkter (Lkr. Mühldorf). Bei Sonja Mayr und dem Projekt „Betreutes Wohnen in Familien“ hat er beides gefunden. Die Familie Mayr hat Jochen Tarasenko in ihre Mitte aufgenommen.
„Die Mayrs sind meine Familie“
„Die Mayrs sind meine Familie“, sagt Tarasenko. „Er gehört jetzt zu uns“, ergänzt Sonja Mayr. Und das obwohl sie sich noch vor fünf Jahren nicht kannten. Heute lebt er bei der Familie Mayr im Haus mit. Wenn sie Feierabend haben ist er da, wenn sie schlafen, am Wochenende und auch an Weihnachten. Eine Einliegerwohnung mit zwei Zimmern nennt er sein eigen.
Das Leben mit Familienanschluss ist ein Projekt der Diakonie, Fachbereich Sozialpsychiatrie, in Burghausen (Lkr. Altötting). Seit gut drei Jahren vermittelt es Psychischkranke an Familien. Ideengeber für dieses ungewöhnliche Projekt ist Belgien. In dem kleinen Ort Geel ist es seit dem 13. Jahrhundert Tradition, Menschen mit Depressionen, Schizophrenien und anderen psychischen Erkrankungen bei sich aufzunehmen. Seit einigen Jahren versucht man dies auch in Bayern umzusetzen. Finanziert wird das Projekt über die Bezirke. 550 Euro pro Monat bekommen die Familien in Oberbayern für die Betreuungsleistung bezahlt, 420 Euro in Niederbayern. Miete müssen die Untermieter extra bezahlen. Damit ist die Unterbringung in Familien für die Bezirke häufig günstiger als ein Heimaufenthalt. Auch das Genehmigungsverfahren läuft über die Bezirke. So hat die Burghauser Einrichtung, die zum Diakonischen Werk Traunstein gehört, fünf bewilligt bekommen. In ganz Oberbayern sind es rund 40 Fälle. Aktuell soll das Projekt „Betreutes Wohnen in Familien“ auch in Niederbayern etabliert werden. Ein Träger aus Landshut sucht derzeit Familien aus dem kompletten Regierungsbezirk. Insgesamt zehn Plätze sollen hier entstehen.
„Ein Zugewinn an Freiheit“
„Auf dem Land findet man eher Familien als in der Stadt“, sagt Elisabeth Borst. „Das hängt auch mit dem vorhandenen Platz zusammen.“ Sie betreut gemeinsam mit einer Kollegin die Burghauser Fälle. In Frage kommen als Untermieter nur jene, die nicht aggressiv oder gefährlich sind. „Und sie müssen sich an Absprachen halten können“, betont Borst. Die Familien wiederum sollen die Kranken nicht therapieren oder gar heilen. „Sie sollen ihnen nur etwas Normalität geben. Einen geregelten Alltag.“ Allein das sei für viele etwas gänzlich Neues. Familie und Untermieter lernen sich über die Diakonie langsam kennen, dabei kann das Projekt jederzeit von beiden Seiten abgebrochen werden. Freiwilligkeit ist oberstes Gebot. Vier Psychischkranke sind aktuell rund um Altötting in Familien untergebracht. Erstaunlicherweise ist es weniger ein Problem, Familien zu finden, als vielmehr die Betroffenen für einen Umzug zu begeistern. „Viele trauen es sich nicht zu, in einer fremden Familie zu leben.“ Sie scheuen sich davor, die geschützte Umgebung des Heimes zu verlassen. „Dabei bringt es so viel mehr Freiheit, Selbständigkeit und Lebensqualität mit sich“, beobachtet Borst. Eine untergebrachte Alkoholikerin beispielsweise hat seit der Unterbringung in einer Familie keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, ein suizidgefährdeter Mann fasste in der Familie neuen Lebensmut.
„Ich bleib hier noch ganz lang“, sagt auch Jochen Tarasenko. Seit vier Jahren lebt er in seinen eigenen vier Wänden. Einmal die Woche fährt er mit Sonja Mayr zum Einkaufen. Bei Arztbesuchen begleitet sie ihn und auch beim Ordnen seines Alltags hilft sie ihm. „Es ist für mich das erste Mal, dass ich so etwas erlebe“, erzählt Tarasenko. „Ich bin der Familie Mayr so unendlich dankbar.“ Der 58-Jährige ist ein Neumarkter Original. Viele kennen ihn. Auch wegen seiner berüchtigten Auftritte. Wenn er etwas getrunken hat, tanzt Tarasenko gern einmal auf dem Stadtplatz. Treibt er es gar zu bunt, rufen die Leute bei Sonja Mayr an. „Er provoziert halt gern“, sagt sie. Aber, und das ist ihr wichtig: Er ist nie aggressiv geworden, nie ausfallend. Manchmal sei er halt etwas verrückt, aber im positiven Sinn. „Menschen wie Jochen halten einem den Spiegel vor“, stellt Mayr fest. „Sie zeigen einem, wie das Leben auch hätte laufen können.“ Aber genau das scheuen viele, weswegen Kranke oft gemieden werden. Und dagegen will die ehemalige Pflegehelferin etwas tun. Sie will helfen, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern.
Der Mehraufwand ist für die 67-Jährige nebensächlich. Neben Tarasenko betreut Mayr ihre bettlägerige Mutter und ihren schwer an Alzheimer erkrankten Mann. „Es wird schon so sein müssen, sonst wären sie alle nicht bei mir.“ Der Glaube lässt sie weitermachen. „Ich sage immer, das ist das Haus der Liebe“, fällt Tarasenko ihr ins Wort. Kichernd schiebt er seine Mütze in den Nacken. „Aber nicht, wie viele jetzt meinen, ein Puff oder so. Das hier ist echte Liebe. Die wahre Liebe zu Menschen.“