Heim, Marianne
Thema: Nächstenhilfe, Hilfsbereitschaft
M1: PNP, 23.01.2012, Nr. 18, S.3
Ein Leben an der Grenze zum Tod
Georg Heim (64) aus Mehring (Lkr. Altötting) liegt seit 13 Jahren im Wachkoma. Es ist eine Situation, die nicht nur Ehefrau Marianne (58) vieles abverlangt.
Von Simone Grebler
Plötzlich ist er umgefallen und war tot. So drastisch berichtet Marianne Heim eine Szene vor 13 Jahren, als ihr Mann einen Herzinfarkt erlitt. Eine dreiviertel Stunde wurde Georg Heim reanimiert. Nun liegt er seit 13 Jahren da, mit offenen Augen, aber unfähig, sich selbst zu bewegen. Der mittlerweile 64-Jährige befindet sich im Wachkoma. Vor elf Jahren hat seine Frau ihn heim in das Haus der Familie nach Mehring geholt. Sie hat ihren Beruf als Krankenschwester aufgegeben und pflegt ihren Mann seither rund um die Uhr.
Der eigene Mann ist so hilflos wie ein Baby. Georg Heim braucht Hilfe, ähnlich aufwändig wie ein Baby. "Einmal am Tag kommt der Pflegedienst zu uns, eine Stunde lang. Denn fürs Waschen brauche ich Hilfe", sagt die 58-Jährige. Auch verschiedene Therapeuten, für Ergotherapie, Physiotherapie bis Logopädie, sind mehrmals in der Woche im Haus. Physiotherapeutin Stefanie Nagl etwa sorgt dafür, dass sich die Spastik in den Muskeln lockert und die Darmtätigkeit angeregt wird. Viele Arbeiten jedoch erledigt Marianne Heim selbst. Sie steht früh morgens auf, dreht ihren Mann im Bett um und hängt die Flüssignahrung an. Die läuft acht Stunden lang genau getaktet über eine Magensonde in seinen Körper. Währenddessen muss auch der Beutel mit Urin geleert werden. Nebenan liegt der Inhalator und ein Absauggerät für den Schleim, die Medikamente stehen jederzeit griffbereit. Die Kranken- und Pflegekasse zahlt alle Geräte und übernimmt sowohl die Kosten für Arzneimittel wie für die Therapie.
Wenn die Sonne scheint, setzt Marianne Heim ihren Mann in den Rollstuhl und fährt ihn auf die Terrasse. Ab und zu schauen Freunde vorbei und besuchen die Familie. Denn ansonsten ist es sehr schwer für Marianne Heim, sich die Zeit einzuteilen und selbst etwas zu unternehmen. Mit Freunden treffen, einfach mal ausgehen, das will wohl geplant sein. "Das lernt man mit der Zeit, denn es ist alles eine Sache der Organisation", sagt Marianne Heim. Deshalb ist sie auch froh, dass ihr ihre Kinder helfen. Die wohnen teilweise noch daheim und sind mit der Krankheit des Vaters aufgewachsen. "Die haben das ganz gut weggesteckt und sind jetzt auch mir eine große Stütze", sagt die 58-Jährige. Wenn sich Marianne Heim mit Freundinnen trifft, dann weiß sie, dass ihr Mann in guten Händen ist. Denn aus Abenden mit Freunden, Sport und über ihre Kinder, schöpft sie die nötige Kraft, um weiter zu machen.
Das mit den Freunden sei so eine Sache. Marianne Heim hat Glück: Die "alten Freunde" der Familie sind noch immer da. Sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist: Bei vielen anderen würden sich nach rund einem halben Jahr Bekannte immer mehr zurückziehen, erzählt sie. "Viele haben Angst, mit so jemandem allein zu sein."
Seit 1999 muss die Familie Heim schon mit der Diagnose Wachkoma zurechtkommen. Zwei Jahre lang lag Georg Heim in einem Pflegeheim, bis Marianne ihn schließlich nach Hause holte. Das Gehirn von Georg ist aufgrund des Sauerstoffmangels von nahezu einer Stunde geschädigt, er reagiert aber durchaus auf seine Umgebung. "Ich rede auch ganz normal mit ihm, es kommt halt nichts zurück", sagt seine Frau. Die tägliche Arbeit der verschiedenen Therapeuten trägt Früchte − wenn auch kleine. Mittlerweile kann Georg Heim zum Beispiel wieder gut schlucken, das musste er viele Jahre lang erst wieder lernen.
Neben Bewegungsübungen wird auch das Atmen geübt und versucht, die Spastik in seinen Muskeln zu lockern. "So wie es jetzt ist, ist schon vieles besser geworden. Aber wahrscheinlich wird es nicht mehr aufwärts gehen. Jetzt versuchen wir, den momentanen Stand zu halten", sagt Marianne Heim. Als ihr Mann nach dem Herzinfarkt fortan ständig beatmet werden musste, war er gerade einmal 51. "Das ist einfach kein Alter für so etwas", findet Marianne Heim. Seitdem kämpft sie dafür, seine Situation zu verbessern. Das ist eine Aufgabe, die alle Kräfte fordert, 24 Stunden am Tag. Auch in der Nacht ist an durchschlafen meist nicht zu denken. Wenn ihr Mann stark hustet und röchelt, muss sie ihm Schleim absaugen und ihn anders lagern, damit es wieder besser wird. Trotz allem würde Marianne Heim ihren Georg momentan nicht in ein Pflegeheim geben: "Ich mache das so lange, wie ich kann."
Aufgeben würde Marianne Heim ihren Mann nie: "Es gibt auch Leute, die wieder aufwachen, man darf die Hoffnung nie aufgeben", sagt sie. Das wäre das Schlechteste, das sie tun könnte.
Einige Menschen wachen wieder auf. Denn es gibt trotz aller Trauer und Ängste auch Fälle, in denen Menschen wieder aufwachen. Es gibt sogar ein spezielles Treffen für Angehörige von "Wiedererwachten". Manch einer liegt oft Jahre im Wachkoma, dann wacht der Patient plötzlich doch wieder auf und muss erst einmal selbst mit dieser Tatsache zurechtkommen. Das gesamte Umfeld müsse jedoch akzeptieren, dass derjenige nie mehr so sein wird, wie er vorher war. "Das ist dann ein anderer Mensch, und es gibt auch Wiedererwachte, die nie damit klar kommen", sagt Marianne Heim.
STICHWORT: Wachkoma
- Die medizinische Bezeichnung für Wachkoma lautet "Apallisches Durchgangssyndrom". Es bedeutet, dass die Verbindung vom Hirnstamm zum Großhirn gestört ist.
- Häufigste Ursachen: Herzinfarkt, Schlaganfall oder Unfälle. Aber auch: Tumore, Blutung oder Entzündung des Gehirns.
- Kinder sind genauso betroffen wie Jugendliche, Erwachsene und Senioren.
- Genaue Zahlen gibt es nicht, doch es wird geschätzt, dass jährlich etwa 40 000 Menschen ins Wachkoma fallen.
- Wachkoma ist ein Zustand der Bewusstlosigkeit, der sich über Jahre hinziehen kann. Das "Apallische Durchgangs-Syndrom" ist ein schlafähnlicher Zustand mit offenen Augen.
- Der Betroffene kann nicht mehr aktiv handeln und nicht mehr adäquat auf Reize reagieren, die sonstigen Vitalfunktionen bleiben aber erhalten.
Quelle: Deutsche Wachkoma Gesellschaft, Bundesverband Schädel-Hirnpatienten in Not e.V.
"Wer nicht betroffen ist, versteht es nicht"
Das Thema Schädel-Hirn-Verletzung betrifft indirekt mehr Menschen, als man meint. Denn durch viele Ursachen können Menschen in diese Lage kommen. Es gibt die "klassischen" Gründe wie Herzinfarkt, Hirnblutung, Tumor oder Unfälle. Aber im Zentrum für stationäre Schwerstpflege in Burghausen liegen auch junge Leute als Wachkoma-Patienten. Der Grund in diesen Fällen: eine Überdosis Suchtmittel.
Weil es für Angehörige oft sehr schwer ist, mit der ungewohnten Situation umzugehen, gibt es in Burghausen und Umgebung eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Wachkoma-Patienten. Geleitet wird die Gruppe von Katalin Harrer und Marianne Heim.
Früher trafen sich die Gruppenmitglieder alle zwei bis drei Monate. Mittlerweile sind die Treffen unregelmäßig, vieles laufe über Internet oder Telefon. "Ich mache auch Besuche bei den Angehörigen oder stehe zur Verfügung, wenn jemand akut betroffen ist", sagt Katalin Harrer. Seit acht Jahren setzt sich die 71-Jährige für dieses Thema ein. Nicht zuletzt, weil sie selbst davon betroffen war. "Mein Mann lag von 2000 bis 2005 im Wachkoma. Ich habe ihn versorgt, bis er starb", sagt Katalin Harrer. Viele Bekannte haben danach zu ihr gesagt: "Sei froh, dass das beendet ist." Doch die Malerin wollte sich auch nach dem Tod ihres Mannes engagieren und anderen Menschen Mut machen.
In Mühldorf gab es schon vorher eine Gruppe des Vereins Schädel-Hirnpatienten in Not. Als die damalige Leiterin diese nicht weiterführen wollte, hat Katalin Harrer die Gruppe 2004 übernommen, zusammen mit Marianne Heim. Besonders wichtig sei die Arbeit, weil es eine ähnliche Gruppe im ländlichen ostbayerischen Raum zuvor nicht gegeben habe. Doch die rund 50 Angehörigen brauchen Ansprechpartner in der Nähe. "Da kann man oft nicht weit fahren, weil man die Betroffenen nicht lange alleine lassen kann, und solche speziellen Einrichtungen waren lange Zeit Mangelware", sagt Harrer. Bis aus Passau kommen die Anfragen, obwohl es dort in der Nähe auch Betreuungsdienste gibt (siehe Kasten).
Ambulante Dienste und Intensivdienste habe es in der damaligen Zeit überhaupt nicht gegeben, erzählt Katalin Harrer. Auch die Therapien hätten sich verbessert, ob Ergo-, Logo- oder Physiotherapie. Man habe erkannt, dass auch ältere Menschen und Komapatienten dieser Hilfe bedürfen. Als ihr Mann erkrankte, habe sie sich selbst über neue Forschungserkenntnisse informiert. "Ich habe Kurse besucht und gemerkt, dass in diesem Bereich noch viel getan werden muss", sagt Katalin Harrer. Was sie den Menschen mitgeben kann, die sich an sie wenden, ist vor allem eins: Hilfe durch Gespräche. Denn oft wüssten die Angehörigen einfach nicht, an wen sie sich wenden sollen. Dabei brauchen sie aber dringend jemand zum Reden. "Viele wissen zum Beispiel gar nicht, dass ein Mensch, der im Wachkoma liegt, auch eine Berührung spürt. Man muss die Hand des Patienten einfach nur länger halten, als bei normalen Leuten", sagt die Rentnerin.
Hier gibt es Hilfe, wenn es daheim nicht mehr geht
Das Zentrum für stationäre Schwerstpflege (ZesS) in Burghausen nimmt Menschen mit Schädel-Hirn-Verletzungen, Tumoren, neurologischen Erkrankungen, Sauerstoffmangelschäden oder nach Hirnblutungen und Schlaganfällen auf. Die Patienten kommen dorthin aus der Reha oder aus anderen Kliniken. Von den 35 Betten für Patienten, die beatmet werden müssen sowie Wachkomapatienten, sind laut Heimleiter Christoph Laqua derzeit lediglich zwei Plätze frei. Vor fünf Jahren wurde das Zentrum gegründet, weil der Bedarf in diesem Bereich vor Ort sehr groß gewesen sei. Für Patienten, die nach Arbeits- oder Privatunfällen schwerstpflegebedürftig sind, entstehen keine Kosten. Die Berufsgenossenschaften bzw. Privat- und Haftpflichtversicherungen übernehmen zu 100 Prozent die Kosten des Aufenthalts. Informationen im Internet unter www.zess-burghausen.de.
Eine Spezialeinrichtung für Wachkoma- und Langzeitbeatmete in Niederbayern unterhalten die Gemeinde Obernzell und die dort ansässigen Niederbronner Schwestern seit 2003. Hier entstanden nach dem Umbau eines ehemaligen Krankenhauses 21 Plätze für Intensivpflege. Die Aufnahme ist auf Dauer möglich oder auch nur vorübergehend, um Angehörige zu entlasten. Die Ordensgemeinschaft hatte bereits 1995 damit begonnen, Wachkomapatienten in ihrem Altenheim St. Josef aufzunehmen. Zwei Jahre später entstand eine eigene Pflegegruppe mit sechs Plätzen. Auch nach Obernzell kommen Patienten mit schwersten Hirnschädigungen im Anschluss an entsprechende Rehamaßnahmen.
Informationen im Internet unter www.tge-on line.org/8808.pnp.