Haugeneder, Nicole
Thema: Behinderung, Krankheit, Lebensbewältigung
M1: PNP, 29.08.2011, Nr. 198, S.9
Diese Familie meistert ihr schweres Schicksal
Beide Kinder von Nicole und Paul Haugeneder sind krank − Der Bub hat nur ein halbes Herz, das Mädchen ist blind
Von Simone Grebler
Vorderfreundorf. Die kleine Johanna liegt auf ihrem Lieblingsplatz, der Kuscheldecke, während Mama Nicole ihren Brei zubereitet. Papa Paul hebt sein Mädchen in die Luft und die Kleine quietscht vergnügt. Patrick kommt in die Küche gerannt, um sich einen Schokoriegel zu holen. "Nicht noch einen, jetzt reicht’s schon wieder", mahnt Nicole Haugeneder ihren Jungen.
Auf den ersten Blick eine ganz normale vierköpfige Familie, die im überschaubaren Vorderfreundorf (Lkr. Freyung-Grafenau) lebt. Doch der Schein trügt. Bei dem mittlerweile siebenjährigen Patrick wurde kurz nach der Geburt ein seltener Herzfehler festgestellt: das hypoplastische Linksherzsyndrom. Das bedeutet, ihm fehlt die linke Herzkammer. Sein Leben stand auf Messers Schneide, die Ärzte hatten den Jungen im Klinikum Passau bereits für tot erklärt. Doch der Kampf der Eltern und drei Operationen brachten Patrick zurück ins Leben. Sein Herz wurde dabei in vielen Stunden umgebaut. Nun kann der Bub wieder fast normal leben. Als junger Mann wird er aber wahrscheinlich ein neues Herz brauchen. Für Patrick selbst liegt das alles weit zurück, nur eine Narbe am Bauch erinnert äußerlich noch an die Operationen.
Vor gut zwei Jahren entschlossen sich Nicole und Paul Haugeneder dann, ihre Familie zu vergrößern. Aus Angst, dass die Krankheit von Patrick genetisch bedingt sein könnte, ließen sich die beiden testen: "Wir sind extra nach Deggendorf gefahren, genetisch war alles in Ordnung." Vor neun Monaten bekamen sie eine Tochter − Johanna.
Auch Johanna ließen die Eltern sofort gründlich untersuchen, alles war bestens, die Ärzte bestätigten, dass das Mädchen gesund sei. Speziell aufs Herz habe man geschaut. Der Kinderarzt stellte zwar fest, dass die Herz-Frequenz hin und her geschwankt habe, aber das sei nicht dramatisch gewesen. "Wir sind dann von Freyung in die Klinik nach Passau gefahren, auch da war alles in Ordnung", sagen die Haugeneders.
Die kleine Familie fuhr nach Hause und für acht Wochen war alles gut. "Dann ist uns aufgefallen, dass sie mit den Augen nichts fixiert", sagt Nicole Haugeneder. Sofort schrillten die Alarmglocken bei den Eltern und sie brachten das Mädchen in die Augenklinik rechts der Isar nach München. Im März wurde dort eine Kernspintomographie gemacht. "Wir sind vom Schlimmsten ausgegangen. Erst wollten wir natürlich alles verdrängen, aber man muss sich dem stellen", sagen die beiden jungen Eltern.
Es kam wie befürchtet, Johanna ist blind. Die Sehbahnen im Hirn sind gestört, die Augen an sich wären voll ausgebildet, aber die Signale werden nicht an das Hirn übertragen.
Im Dr. von Haunerschen Kinderspital in München hat man jetzt auch den Grund herausgefunden. In der 26. Schwangerschaftswoche hatte Mutter Nicole sich einen Virus eingefangen. Dadurch wurde im Gehirn des Babys die Versorgung unterbrochen und es entstand eine Narbe. In München wurde Johanna vor kurzem auf ein Medikament eingestellt, sie wird aber körperlich und geistig behindert sein und hochgradig sehbehindert. "Was letztendlich wird, kann man noch nicht sagen. Jedes Kind reagiert anders", wissen die Haugeneders und hoffen, dass sich Johanna positiv entwickelt.
Das Ausmaß der Behinderung ist unklar. Mama Nicole hebt das neun Monate alte Baby in seinen Kindersitz. Auf den ersten Blick wirkt der Kinderstuhl ganz normal, doch auch das täuscht. 150 Euro hat er gekostet, er ist speziell angefertigt. Denn Johanna sitzt nur gekrümmt, kann sich kaum aufrecht halten. Wenn sie den Kopf nach vorne streckt, ist das eine Schutzhaltung bei ihr. Für ein Baby vielleicht nicht ungewöhnlich, doch das wird eine Weile so bleiben.
"Jetzt merkt man noch nicht so viele Unterschiede zu den anderen Kindern", sagt Nicole Haugeneder. Doch je älter sie wird, desto mehr wird klar, dass Johanna anders ist als andere Kinder ihres Alters.
Noch isst sie aber ganz normal das, was ihr die Mama auf dem Löffel hinstreckt. Ein gutes Zeichen. Derweil kaut Patrick an seinem Schokoriegel und erzählt seinem Papa aufgeregt von seiner größten Leidenschaft: Fußball spielen. Mittlerweile kickt der Junge selbst beim FC Vorderfreundorf. Der aufgeweckte Bub rennt in sein Zimmer und kramt sein Fotoalbum heraus. Darunter Fotos mit den Stars des FC Bayern. "Am liebsten mag ich Franck Ribéry", sagt Patrick und seine Augen leuchten, als er die Seiten umblättert bis zu dem gemeinsamen Bild mit dem Weltstar. Vor zwei Jahren durfte er gemeinsam mit anderen herzkranken Kindern beim Training der Bayernspieler zuschauen und anschließend ein Spiel besuchen. Die Stiftung "Wünsch dir was" hat das ermöglicht.
Im September kommt Patrick in die Schule. "Darauf freue ich mich schon", sagt er gespannt, während er seinen Papa davon überzeugt, mit ihm endlich hinten im Garten ein paar Bälle auf das selbst gebaute Tor zu schießen. Seine Eltern haben mit dem Sport keine Probleme, das ist auch aus ärztlicher Sicht erlaubt. Da könne ihm nichts passieren. Er muss seine Medikamente nehmen und darf zum Beispiel nie mit dem Flugzeug fliegen, Schiffschaukeln oder Trampolin springen. "Aber das weiß er auch", sagt Nicole Haugeneder. Jedes halbe Jahr muss er untersucht werden.
Johanna wird indes schon jetzt gefördert. Uta Kaldenhoff, Heilpraktikerin aus Jandelsbrunn, kommt einmal in der Woche und übt mit Johanna. Auch ein Therapeut vom Blindeninstitut aus Regensburg kommt zweimal die Woche. Schon ab dem Kindergarten könnte das Mädchen die spezielle Schule für Blinde besuchen, doch dazu müsste sie auch im Internat in der Oberpfalz wohnen. Für Mama Nicole kein Thema: "Wir behalten sie so lange hier, wie es geht."
Ab und zu hat Johanna Krampfanfälle, dann schaut sie stark nach rechts, bis man nur noch das Weiße in ihren Augen sieht. Beim ersten Mal sei das schon unheimlich gewesen. Außerdem kann Johanna das linke Ärmchen kaum bewegen, die Finger sind fest ineinander verkrampft. Nicole und Paul streicheln dem Mädchen immer wieder über die Hand, damit sie diese entspannt. Die Spastik in ihrem Bein wird demnächst mit Botox, einem Nervengift, behandelt, um die Muskulatur zu entlasten.
Haugeneders gehen offen mit der Krankheit ihrer Kinder um. "Viele wissen ja gar nicht, wie sie ist und wir möchten unsere Johanna nicht verstecken. Deshalb gehen wir auch zu Festen und reden über die Krankheit", sagt Nicole Haugeneder. Das haben die Eltern untereinander vereinbart. Wie es mit Johanna weitergeht, ist sowieso noch unklar, vielleicht braucht sie irgendwann einen Rollstuhl und muss dann rund um die Uhr betreut werden.
Sie haben das Lachen trotzdem nicht verlernt Immer wieder müssen die Haugeneders zu Ärzten. Sei es, um die Gesundheit von Patrick zu überprüfen, oder um Neues über die Zukunft von Johanna zu erfahren. Jedes Mal muss sich Paul Haugeneder dafür frei nehmen. "Ich habe einen sehr guten Arbeitgeber, der mich glücklicherweise immer freistellt. Aber mein gesamter Urlaub geht nur für Arztbesuche drauf", sagt der Werkzeugmacher. Die Großeltern wohnen mit im Haus und helfen, wo sie können.
Die Familie hadert nicht mit ihrem Schicksal. Nicole und Paul Haugeneder haben das Lachen nicht verlernt. "Natürlich waren wir erst schockiert, doch du musst ja damit umgehen", sagen sie. Und dass sie das können, beweist diese kleine Familie jeden Tag aufs Neue.
M2: Bilder von Nicole Haugeneder mit Familie
M3: Didaktische Impulse
1. Brief an die betroffenen Personen schreiben.
Dies kann z.B. ein Ermutigungs- oder Bewunderungsbrief an die Eltern sein.
2. Gefühle nachempfinden.
Ziel dieser methodischen Grundrichtung ist es, sich in die Gefühle der beteiligten Personen zu versetzen.