Frauenhaus Passau
Ehrenamt, Hilfsbereitsschaft, Nächstenhilfe
M1: 16.07.2020, Nr. 162, S. 19
"Nehmt euren Mut zusammen und ruft an"
Ein Anruf und Mitarbeiter im Frauenhaus helfen bei häuslicher Gewalt – Sie berichten von ihren prägendsten Erlebnissen
von Daniela Stattenberger
Es ist Mitternacht. Bei der Frauenhaus-Vorsitzenden Hildegard Stolper klingelt das Telefon. Eine verzweifelte Frau sucht mit ihren Kindern Zuflucht. Stolper holt sie ab. "Ihr Partner hatte ihr alle Finger gebrochen. Jeder stand in eine andere Richtung", erinnert sich die Ehrenamtliche. "Den Anblick werde ich nie vergessen." Stolper fährt die Frau ins Klinikum. Die Vorsitzende beruhigt die Kinder. Sie schlafen bei ihr im Bett, bis die Mutter am nächsten Tag vom Krankenhaus abgeholt und ins Frauenhaus Passau gebracht werden kann.
Es sind Erlebnisse wie diese, die die Mitarbeiter des Frauenhauses – ob nun haupt- oder ehrenamtlich – zusammenschweißen. Am langen Tisch im Besprechungszimmer der Einrichtung geben sie der PNP einen Einblick in ihre Arbeit.
In dem Raum mit der prächtig blühenden Orchidee auf dem Fensterbrett führt die Hausleitung, Sozialpädagogin Selina Wagner, zusammen mit einer weiteren angestellten Sozialpädagogin normalerweise die Aufnahmegespräche. Dann reichen sie den Frauen ein heißes Getränk zur Beruhigung, während die Kinder zum Beispiel mit dem Puppenhaus in der Ecke spielen. "Hier fühlen sie sich wohler als im Büro an meinem Schreibtisch", sagt Wagner. Während des Corona-Lockdowns habe es viele Anrufe unter der 085189272 gegeben. Die nehmen während der Bürozeiten die Sozialpädagoginnen an, außerhalb die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, darunter die Mitglieder des Vorstands Hildegard Stolper, Christine Eichinger, Katja Grabitzky, Katja Südhoff und Waltraud Fackler.
Vor allem nach den Ausgangsbeschränkungen seien nun auch die Platzanfragen in die Höhe geschnellt, berichtet Wagner. Zehn Schutzplätze bietet die Passauer Einrichtung. 2019 war sie im Durchschnitt zu knapp 85 Prozent belegt. Viele Geschichten häuslicher Gewalt hat die Sozialpädagogin schon von den Frauen gehört. "Erst kürzlich hatte eine Frau aber Aufnahmen auf dem Handy dabei. Das geht einem noch einmal ganz anders unter die Haut, wenn man mithört, wie der Mann sie erniedrigt und beleidigt."
Die Arbeit im Frauenhaus ist ein anspruchsvoller Job. "Ich habe aber gewusst, auf was ich mich einlasse." Schon im Praktikum hat Selina Wagner die Arbeit im Frauenhaus kennen – und lieben gelernt. "Jeder Tag ist anders. Die Entwicklung der Frauen mitzuerleben, das ist besonders schön. Auch nach der Entlassung betreuen wir die Frauen weiter."
Viele kommen dennoch nicht sofort von ihrem gewaltbereiten Partner los, kehren nach ihrem ersten Aufenthalt im Frauenhaus ein zweites, oft auch drittes Mal zu ihm zurück. Bei ihrem allerersten Fall war dies ähnlich, berichtet auch Stolper. Als die Ehrenamtliche die Frau mit ihren Kindern abholte, rann ihr das Blut den Kopf herab, ihr Mann hatte sie mit einem abgerissenen Tischfuß geschlagen. "Ich weiß noch, sie hat sogar ihre Handynummer gewechselt, als sie hier im Haus war. Dann ging sie trotzdem zu ihm zurück."
Ein Mann stand mit einem Hackl vor der Kellertür. Abhalten kann man die Frauen davon nicht, weiß Wagner. "Viele kehren der Kinder wegen zurück. Aber wir sprechen mit ihnen darüber, dass die Kinder das Leid ihrer Mutter genau mitbekommen und selbst darunter leiden. Mehr können wir nicht tun." Freilich, gibt sie zu, sind manche Kinder sehr loyal ihren Vätern gegenüber. Das mache teilweise sogar die Geheimhaltung der Adresse des Frauenhauses schwierig.
Erst vor wenigen Jahren hat das Frauenhaus ein neues Gebäude bekommen. An der alten Adresse ist einmal der Frauenhausstandort bekannt geworden, erinnert sich Hildegard Stolper. "Da stand dann ein Mann mit dem Hackl nachts vor der Kellertür, wollte sie damit einschlagen. Er schrie ,Ich bring dich um‘", erinnert sie sich.
Stolper hat selbst in ihrer Jugend Erfahrungen mit Gewalt gemacht – und sich geschworen, "wenn es mir gut geht, setze ich mich für die Opfer von Gewalt ein". Von der ehemaligen Frauenhaus-Vorsitzenden Ursula Geisenberger am Totenbett darum gebeten, hält sie nun seit bald zwei Jahrzehnten im Vorstand des Passauer Frauenhauses ihr Wort.
"Nehmt für einen kurzen Moment allen Mut zusammen und ruft an. Das Gespräch dauert am Telefon zehn bis fünfzehn Minuten, nicht länger und es gibt so viel Sicherheit", das rät eine aktuelle Bewohnerin des Frauenhauses Frauen, die häusliche Gewalt erfahren. Sie möchte anonym bleiben. "Es kostete mich auch viel Überwindung, Hilfe anzufordern", sagt sie. "Mein Herz hat so gepocht, das konnte man sicher sogar von außen sehen." Doch sie wusste nicht mehr weiter. Ihr Partner hatte sie finanziell, psychisch und körperlich unter Druck gesetzt, sie wieder und wieder an den Schultern gepackt und geschüttelt, erzählt sie. "Eigentlich wollte ich bei meinem Bruder unterkommen. Das ging aber dann nicht." Nach mehreren Monaten im Frauenhaus fängt sie nun bald mit ihren Kindern in einer eigenen Wohnung von vorne an.
Weit wegziehen für einen Neuanfang müssen immer häufiger junge Frauen mit Migrationshintergrund, berichtet schließlich Sozialpädagogin Anja Mühlberger. 17 oder 18 Jahre alt, geboren in Deutschland, kommen sie ins Frauenhaus, weil der Vater, der Onkel und/oder die Brüder über sie bestimmen wollen. "Es ist schön, wenn die Mädchen den Absprung schaffen und selbstbestimmt leben können. Oft müssen sie dafür aber weit wegziehen, weil ihre Familie große Netzwerke haben und herausfinden, wo sie wohnen."
Nachgefragt: „Da ging mein Puls hoch"
Christine Eichinger, stv. Vorsitzende, ist seit fast 20 Jahren als ehrenamtliche Mitarbeiterin dabei, sie sagt: "Wenn das Handy neben meinem Bett liegt und ich habe Notfalldienst, da hoffe ich schon irgendwie, dass es nicht klingelt. Bei brenzligen Situationen ist heutzutage aber viel öfter als früher die Polizei dabei. Und die Frauen rufen häufiger tagsüber an, sind vielleicht auch selbstbewusster geworden, müssen nicht warten, bis der Mann zum Beispiel im Wirtshaus ist. Früher kamen die Anrufe fast nur in der Nacht."
Welche Ereignisse ihr besonders in Erinnerung blieben? "Einmal hat der Ehemann die Frau zum Abholort gebracht, da war es die Schwiegermutter, die Gewalt ausübte. Und einmal stand eine Frau vor dem Frauenhaus, sie war schon einmal da gewesen, rief an und sagte, sie will jetzt sofort wieder rein. Ich erklärte ihr dann, dass das so nicht geht."
Seit über zehn Jahren ist Katja Grabitzky ehrenamtliche Mitarbeiterin: "Ich bin normalerweise ein Wochenende im Monat im Einsatz. Es ist recht unterschiedlich, wie viele anrufen, mal gibt es nur einen Anruf, mal fünf. Ein Anruf endet nicht zwangsläufig in einer Aufnahme im Frauenhaus. Oft rufen Freunde oder Nachbarn an, die Frauen brauchen meist Zeit, um sich selbst einen Ruck zu geben. Sie stehen unter Strom vom Zusammenleben mit gewaltbereiten Männern. Ich muss dann nachfragen, ob es zur Gewalt kam und ob das schon öfter vorkam. Ich lasse sie weinen, wenn sie weinen wollen. Ich muss unterscheiden, ob die Frau, die anruft, ein Fall für das Frauenhaus ist. Wenn nicht, zum Beispiel bei Alkoholismus und Obdachlosigkeit, lege ich ihr die passenden Beratungsangebote ans Herz, vermittle sie weiter."
Einmal hat Grabitzky sogar eine Frau zu ihrem Mann begleitet, um ihre Sachen zu holen, mit Polizeieskorte. "Das war aufregend und peinlich irgendwie. Die Frau hatte erzählt, wie aggressiv ihr Mann sein kann. Und dann stand der große, kräftige Mann da und man wusste nicht, wie sich das entwickelt. Er verhielt sich dann aber ganz zahm. Trotzdem waren wir froh, als wir dann aus der Wohnung draußen waren."
Katja Südhoff ist seit 2018 ehrenamtliche Mitarbeiterin, erst einmal wurde sie zu einem nächtlichen Einsatz gerufen, berichtet sie. "Ich war überraschend ruhig. Ich hatte mir eine Checkliste vorbereitet, was zu tun ist, wenn jemand anruft. Mein Herz klopfte erst höher, als mir die Familienangehörigen erklärt haben, die Frau sei suizidgefährdet. Da ging mein Puls hoch."
Angesichts der Geschichten, die ihre Kolleginnen erlebt haben, sagt Südhoff: "Männer, die ihre Überlegenheit ausnutzen, machen mich richtig wütend." Gänsehaut bereitet hat ihr auch ein Fall, in welchem der Lebensgefährte einer Frau deren Tochter beim Duschen gefilmt hat. "Sie fand das Video auf seinem Handy. Wir haben sie telefonisch beraten, ihr Ansprechpartner zur Seite gestellt für das weitere Vorgehen."
Hildegard Stolper, Vorsitzende, hat schon so einiges bei ihren vielen Einsätzen erlebt (siehe auch Bericht oben). Unter anderem wurde ihr schon einmal das große Einzugsgebiet des Frauenhauses Passau zum Verhängnis. Tief in den Bayerischen Wald hinein wurde sie gerufen, um eine Frau abzuholen: "Und dann war da so viel Schnee und ich bin stecken geblieben. Ich bin ausgestiegen und beim Gehen im Schnee versunken, bis ich an einer Stelle endlich Handyempfang hatte und die Polizei erreichte, die halfen mir dann und schaufelten mich frei (lacht)."
M2: Bilder der Mitarbeiterinnen des Frauenhauses
M3: Didaktische Impulse
1. Schreibt einen Brief an die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses mit Argumenten, was ihr an ihrer Arbeit schätzt.
2.Sucht in eurer Umgebung nach Menschen, die sich auch sozial oder ehrenamtlich für ein Frauenhaus engagieren. Interviewt sie nach ihren Motiven!