Eser, Anna Katharina
Thema: Eine Welt, Freiwilligendienst, Hilfsbereitschaft
M1: PNP, 01.12.2010, Nr. 279, S. 29
Helfen statt wegschauen: Diese junge Frau macht’s vor
Anna Katharina Eser (26) war schon mehrmals für Straßenkinder in Brasilien im Einsatz - Sie will Ärztin werden und weiter Geld sammeln.
Von Marita Pletter
Fürstenzell. Anna Katharina Eser ist gerade einmal 26 Jahre alt. Sie hat in ihrem jungen Leben schon Erstaunliches geleistet - und deshalb gehört ihr auch die erste Geschichte unserer Serie „Ein Dankeschön im Advent“. Die Fürstenzellerin hatte als 16-Jährige mit Hilfe des Missionsreferates der Diözese gemeinsam mit der Kindergruppe, die sie damals leitete, die Patenschaft für ein brasilianisches Kind übernommen. Und das was erst der Anfang.
Nach dem Abitur in Niedernburg flog sie 2004 das erste Mal nach Brasilien, dann 2007, 2009 und auch heuer wieder - jedes Mal für mehrere Wochen. Sie kümmert sich dort um Straßenkinder in den Favelas, den Armenvierteln der nordöstlichen Millionenmetropole Recife. Dort, wo auf einem Quadratkilometer 36 000 Menschen leben, hat sie inzwischen drei Patenkinder.
Das, was sie für die Flüge braucht, hat sie von ihrem Sparbuch genommen. Auch ihre Eltern haben dazugezahlt. In Recife arbeitet Anna Katharina Eser im Kinderzentrum „Turma do Flau“, einer philanthropischen Einrichtung der „Schwestern des Gekreuzigten Jesus Christus“ - eine Klostergemeinschaft. Die Pädagogen, die dort arbeiten, leitet die brasilianischen Ordensfrau Aurieta (78).
Für ein paar Euro kann man eine Patenschaft für eines dieser Kinder übernehmen, ihm damit Essen, Schulbildung und ärztliche Versorgung gewährleisten. Ohne Bezahlung rührt kein Arzt in Brasilien einen Finger. Anna Katharina machte diese schmerzliche Erfahrung, als sie mit einem Buben, der von einem Hund gebissen worden war, ins Krankenhaus eilte. Erst als sie nach langem Warten bedeutet hatte, dass sie gleich zahlen werde, erschien ein Arzt.
Schwester Aurieta rief das Projekt „Turma do Flau“ 1982 ins Leben, um den Straßenkindern eine Lebensperspektive zu vermitteln. Die Schwester hatte damals ein Slum-Kind, das den Hunger mit Klebstoff-Schnüffeln betäubte, mit ins Kloster genommen. Zunächst eigentlich nur, um ihm zu essen und ein wenig religiöse Erziehung zu geben. Doch dann kümmerte man sich im Kloster um immer mehr Kinder. „Gemeinsam mit einem deutschen Pater aus Münster zog sie das Kinderzentrum hoch“, weiß Anna Katharina. Der Pater ist zwar wieder zurückgegangen nach Deutschland, unterstützt aber bis heute das Kinderzentrum mit seiner Gemeinde.
Ein Kloster kümmert sich um die Kinder
Und auch die 26-Jährige Fürstenzellerin, eine Medizinstudentin, die an ihrer Dissertation arbeitet, hilft, wo sie kann. Sobald sie in Brasilien angekommen ist, arbeitet sie im Kinderzentrum von Recife mit. Und jedes Mal übergibt sie bei ihren Besuchen einen Großteil des Geldes, das bei den jährlich veranstalteten Benefiz- und Weihnachtskonzerten des Maristengymnasiums zusammenkommt. Der Rest wird überwiesen.
Heuer waren es 5000 Euro, die sie für die Kinder dabei hatte, die sie schon so sehr erwarteten. „Da haben wir gleich ganz viele Lebensmittel gekauft“, erzählt Anna Katharina, die sogar Portugiesisch lernte, um sich verständigen zu können. Im Gepäck hatte sie auch das Geld aus dem Kasten, der bei der Domkrippe in Passau steht, und Spenden, die ihr Menschen anvertrauten, denen sie von den brasilianischen Straßenkinder erzählte. „T-Shirts, die ich mit ihnen gekauft habe, werden gehegt und gepflegt, und das Essen von Schokolade wird zelebriert, das können wir uns überhaupt nicht vorstellen“, berichtet sie.
Wenn die 26-Jährige erzählt, scheint ihre Stimme aufgewühlt von der Zuneigung und Wärme für diese Kinder, „die sich traubenweise an einen dranhängen“ in ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe. So etwas haben die meisten nie kennen gelernt in einem Umfeld, das von Gewalt, Hunger, Drogen, sexuellem Missbrauch, auch in der Familie, dominiert wird. Die Kinder sind nicht selten traumatisiert von der Gleichgültigkeit und Brutalität meist unbekannter Väter und abwesender oder verbitterter Mütter. Einmal hat ein kleines Mädchen, als es an Annas Hand ging, leise gefragt: „Warum hat meine Mutter mich nicht so lieb wie du?“
Die Mütter kämpfen täglich mit ihren zehn, zwölf Kindern ums Überleben, die Mädchen werden manchmal schon mit elf Jahren schwanger. Deren Kinder nehmen die Schwestern selbstverständlich auch mit auf. Um die 250 Schützlinge betreuen sie. Das Zentrum mit Schule und Kindergarten und Mahlzeiten frühmorgens und mittags ist „nur“ Tagesstation. Nachts sind die Kinder bei Verwandten, älteren Geschwistern oder „irgendwo“. Denn für die Nacht, das heißt für mehr Personal, Möbel, sanitäre Einrichtungen und mehr, fehlt das Geld. „Morgens treibt sie der Hunger her und später kämpfen 150 Kinder darum, an meiner Hand gehen zu dürfen“, sagt Anna Katharina.
Wird eines der Kinder überfahren, lässt man es am Straßenrand liegen. Das weiß die Fürstenzellerin aus dem Umfeld ihres Patenkindes. Und sie hat auch erfahren: „Pro Woche werden in den Favelas bis zu zehn Straßenkinder einfach abgeknallt von korrupten Polizisten, die, bestochen von der weißen Oberschicht, die Armen in den Armenvierteln reduzieren.“ Die Armen, besonders die armen Kinder, sind Freiwild, Fünf- und Sechsjährige müssen Schmiere stehen für die Drogenbosse und weglaufen, wenn die Polizei kommt.
2004 wurde Anna Katharinas Freude, beim ersten Besuch finanziell helfen zu können, zerrissen - eingedenk jenes Sechsjährigen, der vor Polizisten auf einen Baum geklettert war. „Mit sechs Schüssen hat ihn einer herunter geknallt und verbluten lassen. Lange lag das Kind da, ein paar Fotografen sind gekommen, um Fotos für die Zeitung zu machen. Nicht einmal einem toten Kind wird Achtung entgegen gebracht.“
Sie müssen sterben, weil sie arm sind
Achtung vor diesen noch so kleinen, völlig ausgelieferten Menschen, die Vermittlung auch einer religiösen Lebensweise möchte man wenigstens in dem Mikrokosmos des Turma do Flau als oberste Prämisse walten lassen. „Sie brauchen unendlich viel Lob und Zuwendung“, sagt Anna Katharina, die bei den Schulaufgaben hilft, bei der Küchenarbeit, bei der medizinischen Betreuung. Trotz allen Elends: „Wir machen Musik, wir basteln, wir tanzen und die Kinder amüsieren sich sehr, wenn ich nicht so gelenkig bin wie sie,“ berichtet die 26-Jährige. Sie sprechen der Deutschen portugiesische Worte vor, die sie nachsprechen soll. Sie zeigt ihnen Bilder von den Schülern des Maristengymnasiums, die für sie musizieren. Und: „Sie haben sehr geweint, als ich das letzte mal weggefahren bin, haben gefragt, ob sie nicht mitkommen dürfen“, sagt Anna Katharina. „Das kann ich gar nicht vergessen.“
Das will sie auch nicht. Obgleich sie nach ihrem Studium hier bleibt und nicht, wie zunächst geplant, als Ärztin nach Brasilien geht. „Ich glaube, von hier aus kann ich finanziell mehr bewirken“, begründet sie den Entschluss und weiß doch: Sie wird trotzdem immer wieder drüben arbeiten.