Ertl, Elisabeth
Thema: Altenhilfe, Hilfsbereitschaft
M1: PNP, 22.02.2011
Ein (halbes) Leben für die Pflege
Pflege ist bei den Ertls kein Tabuthema: Betti Ertl und ihre Schwiegertochter haben einen engen, ehrlichen Umgang miteinander. Anders geht es auch nicht, wenn man 23 Jahre miteinander verbringt.
von Alexandra Königseder
Massing. Elisabeth Ertl streicht ihrer Schwiegermutter Betti Ertl sanft durchs kurz geschnittene, ergraute Haar. "Na Oma, hast du gut geschlafen?", fragt sie und zupft behutsam noch einige Haarsträhnen zurecht. Betti Ertl, die eigentlich Barbara heißt, ihr ganzes Leben aber schon Betti genannt wird, lächelt mild: "Ich war froh, dass du letzte Nacht da warst, als mir die Decke runtergefallen ist." Seit nunmehr 23 Jahren pflegt Elisabeth Ertl die 83-jährige Bäuerin. Als Betti Ertl vor 30 Jahren einen Schlaganfall hatte und zunächst noch eingeschränkt arbeiten konnte, übernahm Sohn Matthias den Hühnerhof in Massing im Rottal. Sieben Jahre später heiratete er Elisabeth, die von Anfang an ihrer Schwiegermutter zur Hand ging. Betti Ertl, oder Oma Betti, wie sie die Familie liebevoll nennt, sollte nach dem Schlaganfall linksseitig gelähmt bleiben. "Was als leichte Einschränkung begann, wurde mit den Jahren zu einer immer größeren Beeinträchtigung und das bei vollem geistigen Durchblick", schildert Elisabeth Ertl den Krankheitsverlauf der Schwiegermutter.
Mit den Jahren wuchs die Herausforderung
In Deutschland pflegen laut Statistischem Bundesamt mehr als zwei Drittel aller Betroffenen ihre Angehörigen zu Hause. Für die Ertls war und ist es selbstverständlich, dass Oma Betti in ihrer gewohnten Umgebung bleiben sollte. Mit den Jahren wurde Alltägliches immer mehr zur Herausforderung für Betti Ertl. Es war ein schleichender Prozess, der durch Schicksalsschläge immer mehr voranschritt, erzählt die 44-jährige Schwiegertochter. Den Tod der geliebten Schwester Tamara, die ebenfalls auf dem Hof lebte, vor 17 Jahren konnte Betti Ertl nicht verwinden. "Danach ging es Schlag auf Schlag. Sie hatte nicht mehr so eine rechte Freude am Leben und auch wir mussten uns entsprechend umstellen", sagt Elisabeth Ertl. 30 Jahre nach dem Schlaganfall braucht Betti Ertl für fast alle alltäglichen Dinge die Hilfe ihrer Schwiegertochter.
Der Tag beginnt für die 83-Jährige mit einem Weckritual. "Manchmal muss ich sie schon motivieren, überhaupt aufzustehen, weil sie viel lieber im Bett liegen bleiben würde, dann lächle ich sie an, ziehe die Vorhänge zurück und berichte was an diesem neuen Tag alles ansteht", erzählt die zierliche Elisabeth Ertl. Nach dem Aufstehen wäscht sie Oma Betti, putzt ihr die Zähne, rubbelt ihr die nassen Haare trocken, cremt sie ein, schneidet ihr die Nägel, zieht die etwa 70 Kilo schwere Betti Ertl an und hebt sie in ihren Rollstuhl. Danach gibt"s die Zeitung, die die 83-Jährige täglich liest, und Frühstück. "Wenn ich es mundgerecht herrichte, kann sie alleine essen, dann sperre ich in der Zwischenzeit den Hofladen auf und befülle die Regale mit frischen Eiern und Nudeln", schildert die dreifache Mutter den Start in den Tag.
Für die Pflegenden bleibt oftmals nur mehr wenig Zeit für Hobbys und Privatleben. "Dadurch, dass man in diese Rolle hineinwächst, fällt es einem selber irgendwann kaum mehr auf, dass man Ehrenämter nicht mehr wahrnimmt oder Ausgehen so gut wie nicht mehr stattfindet", reflektiert Elisabeth Ertl. Auch Urlaub mit der Familie im klassischen Sinn hat es so nicht gegeben bei den Ertls.
Mit Schwiegermutter aufs Kreuzfahrtschiff
Aber einmal hat die taffe Schwiegertochter entschieden, dass so eine Kreuzfahrt keinem schaden kann. "Die drei Kinder, Oma Betti und ich haben eine Schiffsreise gemacht − eine ganze Woche lang. Es war herrlich", schwärmt die 44-Jährige.
Während ihr Mann Matthias auf dem Hof die Stellung hielt, haben Kinder, Mutter und Schwiegermutter Seeluft geschnuppert. Eine Ausnahme im Alltag, die bei Betti Ertl aber auch negative Erinnerungen wachruft, weil sie mit der Reise überrascht wurde: "Als sie mich in der Früh geweckt und mit all den Koffern ins Auto gebracht haben, dachte ich, dass sie mich jetzt ins Heim bringen." Elisabeth Ertl ist erstaunt und doch bekräftigt diese Aussage der Schwiegermutter ihr 23-jähriges Engagement: "Das hast du mir nie gesagt, Oma. Das wollte ich nicht. Wir wollten dich im Vorfeld nicht unnötig aufregen, deswegen sollte es eine Überraschung sein." Betti Ertl will nicht ins Heim, will nicht von fremden Menschen gepflegt und nur in regelmäßigen Abständen besucht werden. Sie will wissen, was auf dem Hof abgeht, was die Familie umtreibt, und schlicht und ergreifend daheim bleiben. Das bestätigt sie mit einem verschmitzten Lächeln in Richtung ihrer Schwiegertochter: "Dahoam is Dahoam, gä?"
So wie die Ertls pflegen etwa vier Millionen Menschen in Deutschland einen Angehörigen in den eigenen vier Wänden. Und obwohl die gelernte Designerin stolz darauf ist, dass sie mit ihrem täglichen Einsatz Oma Betti seit 1988 ermöglicht, genau dieses Gefühl von Heimat und Geborgenheit zu erfahren, nagt die Pflege manchmal an ihrem Gemüt. "Es gibt gute und schlechte Tage. Aber es wäre gelogen, zu sagen, dass immer alles toll ist. Wir haben einen ehrlichen Umgang miteinander. Jeder ist mal schlecht drauf. An diesen Tagen geht dann eben alles nicht so einfach von der Hand und man ist dünnhäutiger", sagt die hübsche Blondine und verdrückt sich eine Träne.
"Als würde man den Menschen abschieben"
Umso mehr ärgert sie sich über die jüngste Idee von Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), der nach dem Vorbild der Mutter-Kind-Kur ein ähnliches Modell mit Pflegenden und Angehörigen vorgeschlagen hat. "Ein Mensch, der auch nur eine Woche seines Lebens einen Angehörigen gepflegt hat, würde so etwas nicht fordern. Das ist völlig weltfremd", ist sich Elisabeth Ertl sicher und schlägt stattdessen vor: "Nur mit der Sicherheit, dass es Oma Betti gutgeht, könnte ich einmal ausspannen. Warum also nicht Verwandten einen Ausgleich bezahlen, wenn die Familie Urlaub macht und sie stattdessen die Fürsorge übernehmen? Meine Schwester hat einmal für eine Woche die Pflege übernommen. Ich war sicher, dass sie Oma Betti gut versorgt, aber sie musste dafür selbst Urlaub nehmen."
Obwohl es das Modell der sogenannten "Kurzzeitpflege" gibt, nehmen es wenige Angehörige in Anspruch, weil es eine Pflege im Heim bedeutet. Der Grund: "Man fühlt sich, als würde man den Menschen abschieben", sagt die 44-Jährige. Verwandte, die die Pflege für kurze Zeit übernehmen, erhalten jedoch nach geltendem Gesetz keinen Ausgleich, auch wenn sie dafür selbst Urlaub nehmen müssen oder ihnen ein finanzieller Nachteil entsteht. Das prangert Elisabeth Ertl an. Außerdem: "Es muss eine größere Akzeptanz in der Gesellschaft geschaffen werden. Pflege ist eines der letzten Tabuthemen. Die häusliche Pflege wird viel zu wenig geschätzt, weil auch nicht darüber gesprochen wird. Die Menschen scheinen eine ungemeine Furcht davor zu haben. Windelnwechseln scheint etwas zu sein, was man nicht mit einem mündigen Erwachsenen verbinden mag."
M2: Bild von Betti Ertl und ihrer Schwiegertochter Elisabeth Ertl
M3: Didaktische Impulse
1. Fertigt ein Akrostikon zum Thema "Altenhilfe" an.
Dabei wird ein Begriff von oben nach unten geschrieben. Er wird inhaltlich gefüllt, indem jeder Buchstabe des Begriffs mit einem Wort weitergeführt wird.
A lte und kranke Menschen nicht im Stich lassen.
L ast und Bereicherung für das eigene Leben?
T rennung- eigenes Leben und Leben der Schwiegermutter (hier) nicht mehr möglich
E...
N...
H...
I...
L...
F...
E...
2. Perspektivenwechsel
Versetze dich in die Lage von Elisabeth Ertl.
- Welche Aufgaben muss sie für Ihre Schwiegermutter Betti Ertl (83) erfüllen?
- Inwiefern wird ihr eigenes Leben durch die Schwiegermutter beeinflusst?
- Worauf muss sie wohl manchmal verzichten?
3. Dankesbrief
Versetze dich in die Lage von Betti Ertl (83). Du bist deiner Schwiegertochter Elisabeth für die jahrelange Unterstützung wahnsinnig dankbar und möchtest dies in einem kurzen Brief zum Ausdruck bringen.
Beispiel
Liebe Elisabeth,
heute an Deinem Geburtstag möchte ich dir endlich einmal "Danke" sagen für all das, was Du in den letzten 23 Jahren für mich getan hast. Ich fühle mich bei Dir jeden Tag aufs Neue wunderbar geborgen, aufgehoben und verstanden. Deine tatkräftige Unterstützung, aber auch Deine stille Anwesenheit bedeuten mir sehr viel .
Es ist ein tolles Gefühl, Dein Engagement und Deine Lebensfreude erleben zu dürfen. Du bist ein Segen für unsere ganze Familie- es ist wunderschön, dass es Dich gibt!
Von Herz zu Herz,
deine Betti