Albrecht, Elisabeth
Thema: Ehrenamt, Nächstenhilfe, Seelsorge, Tod/Tote
M1: PNP, 21.12.2020, Nr. 297, S. 22
"Mein erstes Mal" – Die Hospizbegleiterin
von Johannes Munzinger
Das erste Mal ist etwas ganz Besonderes. Ob der erste Auftritt eines Musikers, das erste Tor eines Fußballers, der erste Fall eines Juristen. Solche Momente bleiben in Erinnerung und können Menschen ihr Leben lang prägen. Um solche einschneidenden Erfahrungen geht es in der PNP-Interview-Serie "Mein erstes Mal". Heute: Elisabeth Albrecht (69) vom Hospizverein Passau. Sie begleitet Sterbende auf ihrem letzten Weg.
Wir alle erleben zum ersten Mal eine Pandemie. Wie geht es Ihnen?
Ich bin gespalten. Einerseits kann ich für mich viele Risiken ausschließen, weil ich nicht mehr aktiv in der Arbeitswelt stehe und schon Hilfsangebote bekommen habe. Andererseits will ich mich nicht komplett einsperren. Wie immer im Leben gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Wenn ich einkaufen oder zum Arzt gehe, trage ich meine Maske, desinfiziere meine Hände und hoffe, dass die anderen das auch tun. Aber inzwischen stecken sich die Leute über so viele verschiedene Wege an, dass man nichts mehr ausschließen kann.
Wie wirkt sich die Situation auf Ihre Hospiz-Tätigkeit aus?
Die ist natürlich stark eingeschränkt. Ich gehöre ja aufgrund meines Alters selber zur Risikogruppe. Derzeit begleite ich eine Altenheimbewohnerin. Im Sommer musste ich mich zu einem festen Termin anmelden. Vor dem Besuch wurde mir vom Personal der Haupteingang geöffnet und Name, Anschrift und Telefonnummer aufgeschrieben, natürlich mit Maske und desinfizierten Händen. Dann konnte ich in einem eigenen Besucherzimmer oder im Garten die Bewohnerin treffen und mich mit ihr unterhalten. Letzte Woche war Besuchsverbot. Wie es jetzt weitergeht, weiß ich nicht. Ich habe an der Pforte ein "kleines Christkindl" abgegeben und versuche, den Kontakt über Telefon aufrechtzuerhalten, was gerade bei schwer psychisch kranken Menschen schwierig ist. Ich begleite auch eine Frau in einem Privathaushalt. Die wird mittlerweile 24 Stunden am Tag betreut, da funktioniert das mit dem Telefon ganz gut.
Hat sich die Lage Sterbender, die begleitet werden, im Vergleich zur ersten Corona-Welle verändert?
Sie ist im zweiten Lockdown etwas anders als im ersten. Auf Palliativstationen und in Heimen dürfen Angehörige oder Begleiter mit entsprechenden Schutzmaßnahmen zu den Sterbenden. Unsere Hauptamtlichen haben damals die möglichen Einsätze gemacht und beraten uns auch jetzt gut bei eventuellen Einsätzen. Gestern haben wir eine 15-seitige Email mit Vorgaben des Dachverbandes bekommen.
Wann wurden Sie zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert?
Meine früheste bewusste Erinnerung ist der Tod meines Großvaters. Damals war ich dreieinhalb Jahre alt. Mir ist gesagt worden, dass der Großvater bald sterben wird. Das war für mich überhaupt nicht greifbar. Als er dann gestorben ist, waren viele Angehörige um ihn. Es wurde viel geweint und getrauert, aber für mich als Kind hat dieser Tod keinen Schrecken gebracht. Es war zwar schlimm und traurig, dass der Großvater nicht mehr für mich da war, aber mit der Zeit ist der Tod immer weiter weggerückt. Es gab ein Grab, das wir jede Woche besuchten, wir haben sein Bild aufgestellt. Mein Großvater war noch bei uns, nur in anderer Form. Und vorher war er bis zu seinem letzten Atemzug bei seiner Familie.
Wann kam Ihnen erstmals der Gedanke, dass Sie Hospizbegleiterin werden wollen?
Der Hospizgedanke ist mir zum ersten Mal vor knapp 20 Jahren begegnet, in einem Gespräch mit Gerda Schmitz, der damaligen Leiterin und Hospizpionierin in Passau. Sie hat mir von ihrer Tätigkeit erzählt und das hat mich begeistert. Aber konkreter wurde es für mich, als vor elf Jahren mein Schwiegervater gestorben ist.
"Dasein für jemanden kann unglaublich viel bewirken"
Als mein Vater gestorben ist, war ich 21. Das war ein Schock, den ich noch nach 20 Jahren in den Knochen gespürt habe. Als meine Mutter gestorben ist, war ich 46. Das war ganz anders. Sie war zwar nicht mehr ansprechbar, aber ich konnte sie berühren und intensiv Abschied nehmen. Als mein Schwiegervater dann gestorben ist, habe ich erfahren, was es bedeutet, wenn ein Mensch nicht alleine sein muss, wenn einfach jemand da ist. Dieses "nur" Dasein für jemanden kann sogar physisch wirken. Damals habe ich auch bemerkt, dass sich nicht alle Menschen gleich leicht mit diesem Dasein bei einem Sterbenden tun. Da dachte ich mir, dass ich das machen könnte.
Wie war es für Sie, als Sie zum ersten Mal als Hospizbegleiterin tätig waren?
Das war noch in meiner Ausbildung, die sich über ein Jahr erstreckt und ein Praktikum einschließt. Ich weiß nicht mehr, ob ich davor jemals ein Altenheim betreten hatte. Aber dann habe ich eine Heimbewohnerin besucht. Sie hatte nur noch eine Tochter als Angehörige, mit der sie aber kein gutes Verhältnis hatte und die auch sehr weit weg lebte. Die Heimleitung meinte, es wäre vielleicht gut, wenn jemand "von draußen" öfter mit ihr reden könnte. Denn sie war trotz ihrer 94 Jahre von den Gesprächen mit anderen Heimbewohnern unterfordert, sie war hellwach, wollte richtig reden und debattieren. Also wurde ich zu ihr gebracht. Ich habe dann angewendet, was wir in der Ausbildung gelernt haben. Dazu wollte ich bloß da sein und schauen, was kommt. Wir haben uns dann bestens unterhalten, sie hat mit mir über all ihr Leid, das ihr im Leben widerfahren ist – und das war nicht wenig – gesprochen. Und wir haben eben viel über das Sterben geredet. Das war erstmalig für mich. So hatte ich noch nie mit jemandem über den Tod geredet. Immer wieder wollte sie Antworten auf ihre Fragen nach dem "Danach" und ich wollte einfach offen und ehrlich sein. Dazu musste ich zugeben, dass es für mich hier auch keine "richtigen" Antworten gibt, nur individuelles Wünschen, Hoffen oder Glauben.
Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass diese Frau gestorben ist?
Einerseits habe ich es sehr bedauert, dass sie nicht mehr da ist. Andererseits war ich ziemlich frustriert, weil mich die Verwaltung des (privaten) Heimes überhaupt nicht informiert hat. Aber auch das musste ich akzeptieren. Ich wollte sie nach den Weihnachtsfeiertagen wieder besuchen und habe dann draußen ihr Sterbebild gesehen. Die Frau war in der Nacht im Bad gestürzt. Es ist immer so, dass man als Hospizbegleiter eine Beziehung aufbaut, gleichzeitig aber weiß, dass sie irgendwann beendet sein wird.
Dieser Gedanke lässt wohl viele Leute erschaudern, dass man viele Menschen kennenlernt, die dann aus dem Leben verschwinden. War das schwierig für Sie?
Das erste Mal war es schon ein bisschen schwierig, aber ich war ja noch in der Ausbildung. Später hat man dafür die Supervision, in der man mit Fragen und Problemen sehr gut aufgehoben ist. Inzwischen ist mir noch eindringlicher bewusst geworden, dass ich zu diesen Menschen gehe, sie aber nur ein kurzes Stück begleiten und erleben kann. Es ist eben der letzte Lebensabschnitt.
"Hospizarbeit ist auch für Angehörige wichtig"
Gab es ein Erlebnis, das Sie an dieser Tätigkeit hat zweifeln lassen?
Ja. Mein Mann war noch während meiner Ausbildung lebensbedrohlich erkrankt. Wenn man persönlich betroffen ist, sieht alles ganz anders aus. Hier ist es nicht möglich, die Lage aus einer gewissen professionellen Distanz heraus zu betrachten. Dieser Schrecken, die Angst, man ist ständig auf 180. Die Nerven liegen blank. Alles, was einen normalerweise schützt, ist weg. Damals habe ich überlegt, ob ich weitermachen soll. Aber gerade da ist mir klargeworden, wie wichtig die Hospizarbeit nicht nur für die Sterbenden, sondern auch für die Angehörigen ist, die hier in ihrem Trauma eine Stütze finden können. Das habe ich sehr genau erkannt, als es meinem Mann wieder gut ging.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen todkranken Menschen zum ersten Mal treffen? Wie bauen Sie eine Beziehung auf?
Mit Zurückhaltung, Ruhe und Vorsicht. Ich weiß meistens sehr wenig über den Menschen. Manchmal weiß ich, welche Krankheit sie haben, aber nicht immer. Ich komme also hin, bin zunächst eine Fremde und stelle mich vor. Die meisten wissen, dass ich vom Hospizverein angerufen wurde. Manchmal sage ich das aber auch nicht. Ich bin dann einfach da, frage, ob ich bleiben darf und setze mich hin. Wenn die Menschen reden wollen, können sie das, sie müssen aber nicht. Sie sind auf jeden Fall nicht alleine. Oft genügt das schon. Wenn mir einer die Hand entgegenstreckt, dann ergreife ich sie. Mitunter versuche ich, vorsichtig die Hand des Patienten zu berühren. Aber da muss ich immer genau schauen, ob er das will oder ob es ihm unangenehm ist. Das spüre ich.
Gibt es auch Menschen, die nicht begleitet werden wollen?
Ja, das habe ich auch schon erlebt. Ich wurde einmal ins Altersheim zu einer liebenswürdigen älteren Dame gebeten. Die war davor zwei Tage lang so unruhig, dass die Pflegekräfte sich jemanden geholt haben, der bei ihr bleibt. Ich bin am Nachmittag hingefahren, die Schwester hat mich ins Zimmer geführt. Die Frau lag im Bett, war aber ansprechbar und klar. Als die Schwester weg war, habe ich gefragt: "Darf ich bei Ihnen bleiben?" Und sie meinte: "Mir wäre es lieber, wenn jetzt niemand da ist. Ich wäre jetzt lieber alleine." Da habe ich gesagt: "Wenn Ihnen das lieber ist, dann gehe ich wieder." Es hat ja keinen Sinn, wenn Widerstand da ist. Sie hat mich dann ganz freundlich angesehen und meinte: "Bitte seien Sie nicht böse, aber ich möchte jetzt wirklich lieber alleine sein." Ich respektierte ihren Wunsch und fuhr wieder heim.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie einen Menschen zum letzten Mal sehen?
Es gehört dazu, dass wir dieses Loslassen ständig vor Augen haben. Für manche Menschen im Endstadium einer schweren Erkrankung ist es ja eine Erleichterung, wenn sie nicht mehr unter diesen Umständen weiterleben müssen, wenn sie endlich gehen können. Ich verabschiede mich dann wie üblich und wünsche ihr oder ihm von Herzen alles Gute. Dass das Sterben dazugehört, als Endpunkt des Lebens, ist immer allgegenwärtig. Aber ich sage den Patienten nie, dass ich glaube, wir hätten uns heute zum letzten Mal gesehen.
"Gestorben wird immer"
Sie sind öfter mit dem Tod konfrontiert als die meisten. Wie hält man das aus?
Realistisch gesehen bin ich nicht wesentlich öfter mit dem Tod konfrontiert als andere Menschen. Vielleicht gehe ich mit der Konfrontation anders um. Ich muss ja nicht ständig begleiten. Wenn eine Begleitung mit dem Tod endet, hat man eine Frist von einem Vierteljahr, in der man freigestellt ist. Dann kann man Abstand gewinnen, genau wie durch die Supervision, wenn von einer Begleitung eine Belastung bleibt. Durch die Hospizarbeit ist der Tod für mich nicht irgendwas, das irgendwann irgendwo passiert. Er ist da. Er gehört zum Leben. Wie viele Leute werden alleine heute wieder an Corona oder im Straßenverkehr sterben? Möglicherweise aus dem eigenen Bekanntenkreis? Vielleicht ist die Frage in diesen Zeiten nur für mehr Menschen aktueller als sonst. Es gibt ja – wenigstens bei uns in Bayern – diesen Spruch: "Gestorben wird immer."
Irgendwann werden Sie zum letzten Mal einen Sterbenden begleitet haben und selber den letzten Weg gehen müssen. Wie sollen sich die Menschen dann an die Hospizbegleiterin Elisabeth Albrecht erinnern?
Sie sollen sagen: "Gut dass sie da war, sie hat zugehört, sich nicht aufgedrängt und mich nicht bewertet. Sie hat mich so zugelassen, wie ich war." Das können aber höchstens noch Angehörige sagen. Die Menschen, die ich begleitet habe, sagen nichts mehr.
Interview: Johannes Munzinger
M2: Bild von Elisabeth Albrecht
M3: Didaktische Impulse
1. Welche Begriffe beschreiben die Arbeit von Frau Albrecht? Sammelt diese an der Tafel.
2. Finde mit einem/r Partner/in charakteristische Merkmale der Hospizarbeit heraus, indem ihr in eurer Umgebung nach einem Hospizverein sucht.
3. Frau Albrecht spendet den Menschen, die sie begleitet, am Ende ihres Lebens Trost und ist für sie da. Überlege selbst, wann du das letzte Mal jemandem Trost und ein aufmerksames Ohr geschenkt hast und tausche dich anschließend mit einem/r Partner/in aus.