Konferenzbericht
Von den europäischen Adelslandschaften sind jene in Mittel- und Osteuropa im Zeitalter der Extreme1 sicher mit am tiefgreifendsten transformiert worden. Anders als Süddeutschland oder die westlichen Kerngebiete des Habsburgerreichs, anders als Schweden, England oder die Niederlande, galten sie spätestens mit der Flucht und Vertreibung vieler alter Eliten als eine adelsgeschichtliche tabula rasa. Adelsforschung, so der lange Zeit implizit vorherrschende Gedanke, habe spätestens in der Vertreibung oder Flucht der traditionalen Elite 1945 ein Ende gefunden. Dass dem nicht so ist, hat die Tagung „Schlesischer Adel im 20. Jahrhundert“ gezeigt.
Mit ihrem Einführungsvortrag ordnete Monika Wienfort (Berlin) die Forschung zu Schlesien in eine breitere Adelsgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland ein. Sie betonte eingangs, dass mit Ausnahme des 20. Juli 1944 bislang kaum mehr als Forschungsinseln zu diesem Gegenstand existieren. Generell könne für die historische Adelsforschung ein methodischer Pluralismus konstatiert werden, wobei in den letzten Jahren sozialgeschichtliche Fragen zunehmend gegenüber kulturgeschichtlichen Perspektiven in den Hintergrund getreten seien. So zeichne sich die Forschung zur Zeit etwa durch die Untersuchung von Repräsentationen als Sonde für gesellschaftlichen Wandel, eine weite Verbreitung des Bourdieuschen Kapitalsortenansatzes und eine zunehmende Ablösung vom Adel als einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe aus, womit breitere Adelskonzepte in den Vordergrund gerückt seien (z.B. vom historischen Adel als Sozialformation gänzlich gelöste Neuadelsdebatten). Viele der Fragestellungen der historischen Adelsforschung seien dabei ebenso wie der offensichtlich erfolgreich angewandte methodische Ansatz der Frühneuzeitforschung bzw. den Arbeiten zum 19. Jahrhundert entlehnt. Zugleich zeigte Wienfort drei Perspektiven auf, die die historische Adelsforschung in den Mainstream der historischen Forschung einbinden können und die beide voneinander profitieren lassen. Sie betonte, dass das Ende des Kaiserreichs 1918 in der Vergangenheit als Einschnitt überbetont worden sei und dass eine Öffnung zum 19. Jahrhundert gerade in den von ihr benannten Gebieten nahe liege. Noch erstaunlich wenig bearbeitet sei, von einigen prominenten Ausnahmen wie Marion Gräfin Dönhoff oder Christian Graf Krockow abgesehen, das Verhältnis von Adel und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Mit den Dimensionen der Regionalisierung und Transnationalisierung schließlich gewinne die historische Adelsforschung Anschluss an die gegenwärtige Forschung zur Globalisierung und könne befruchtend zu dieser beitragen.
In der ersten Sektion thematisierte die Tagung die veränderte politische Rolle des Adels im 20. Jahrhundert. Dabei galt es in erster Linie, den von der Forschung für den Südwesten Deutschlands, Sachsen und Westfalen herausgearbeiteten Wandel mit schlesischen Befunden in Bezug zu setzen und eventuelle Spezifika herauszuarbeiten, wozu auch der Vergleich zum 19. Jahrhundert gesucht werden musste. Von den zahlreichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hat vor allem die politische Radikalisierung des Adels zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus viel Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren.2
Die Sektion eröffnete Roland Gehrke (Stuttgart) mit einem Beitrag über den schlesischen Adel im preußisch-deutschen Parlamentarismus. Er konstatierte ein Ungleichgewicht, das in der Forschung zu Adel und Parlamentarismus zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert bestehe. Während für den Frühparlamentarismus und weite Teile des Kaiserreichs die Rolle des Adels in den Parlamenten inzwischen relativ gut erforscht sei, bestünden hier für die Weimarer Zeit und die Bundesrepublik erhebliche Desiderate. Die historische Parlamentarismusforschung habe sich in den vergangenen Jahren zunehmend hin zu einer Kulturgeschichte des Politischen entwickelt, die gerade angesichts der relativen Ritualarmut moderner Gesellschaften Formen des Zeremoniells und Habitusformen in den Mittelpunkt stelle. Zugleich betonte er ähnlich wie seine Vorrednerin, dass sich wesentliche Forschungsfragen zwischen 19. und 20. Jahrhundert parallelisieren ließen. Dies betreffe insbesondere die Fragen, ob der Adel in den Parlamenten als eine geschlossene soziale Gruppe (also „als Adel“) agiert habe bzw. überhaupt noch erkennbar gewesen sei; welche möglichen Refugien zur Aufrechterhaltung von Adeligkeit sich im Parlamentarismus geboten hätten und welche Bündnisstrategien mit anderen gesellschaftlichen Gruppen erkannt werden könnten bzw. wo ein individuelles Ausbrechen einzelner Parlamentarier zu erkennen sei.
Die Entstehung eines katholischen Konservatismus in der Weimarer Republik thematisierte Sascha Hinkel (Münster) in seinem Vortrag am Beispiel der schlesischen Grafen Hans von Praschma und Anton Franz von Magnis, die nach den lebensweltlichen Brüchen, die mit dem Ende des Kaiserreichs einher gingen, einen christlichen Ständestaat anstrebten. An der Auseinandersetzung der beiden Zentrumspolitiker mit dem Breslauer Fürstbischof Kardinal Adolf Bertram um das Verhältnis zwischen Zentrum und SPD zeigte Hinkel, wie der Katholizismus als alleiniges Kohäsionsmittel für die Partei zunehmend an Bindekraft verlor. Beide hatten sich beide doch unter Umgehung des Fürstbischofs direkt mit einer Denkschrift an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri gewandt, in der sie vor der Gefahr des „Bolschewismus“ warnten, die aus einer auch nur zeitweiligen Zusammenarbeit mit der SPD erwachse. Statt dessen strebten die Grafen eine Rechtskoalition mit der DNVP an.
Mirosław Węcki (Katowice) befasste sich in seinem Vortrag mit Adeligen im deutschen Verwaltungsapparat in Oberschlesien während der NS-Diktatur am Beispiel des Landrats des Kreises Beuthen-Tarnowitz Freiherrn Walrab von Wangenheim. Węcki unterstrich in seinem Vortrag nicht nur die Integration einzelner Adeliger in das NS-Regime, das gerade dem ärmeren Adel neue Karrierechancen zu bieten schien, sondern auch die bleibende Kluft zwischen dem alteingesessenen Adel, besonders dessen bedeutenderen Familien und den adeligen Aufsteigern in der Verwaltungselite – zumal wenn diese wie Wangenheim Zuwanderer aus anderen Provinzen waren – eine Kluft, über die auch geteilte Habitusformen nur mühsam hinwegtäuschen konnten. Zugleich stellte er auch das Bemühen von Teilen der bürgerlichen neuen Elite heraus, sich dem Adel durch Imitation und Reinvention anzunähern, etwa wenn der Oberpräsident und NSDAP-Gauleiter für Schlesien Josef Wagner das Jagdschloss Promnitz für glänzende Jagdparties requirierte oder sein späterer Nachfolger Fritz Bracht sich zum Gaujägermeister erhob.
In seinem Kommentar plädierte Josef Matzerath (Dresden) für eine Relativierung des Jahres 1918 als historische Zäsur. Besonders die Dimensionen der Konsum- und der Mediengesellschaft böten sich hier als Instrumente an, um die in den Vorträgen betonten Brüche des politischen Systems durch eine longue-durée-Betrachtung zu ergänzen. Die Konsumgesellschaft in ihrer Breite habe eine Veränderung der Distinkionsmöglichkeiten mit sich gebracht, während die Mediengesellschaft den einstmaligen Informationsvorsprung des Adels weitgehend aufgehoben habe. Von bleibender Bedeutung seien allerdings persönliche und familiäre Netzwerke, von denen die Vorträge reichlich Beispiele geboten hätten. Besonders die stärker kulturhistorische Frage nach der Geschlossenheit des Adels in den Parlamenten sei zu begrüßen, da die klassische Sozialgeschichte hier viel zu selbstverständlich von einer Einheit des Adels ausgegangen sei. Er schloss sich Roland Gehrke darin an, die Ambivalenz der Rollen zu betonen – so stelle sich weniger die Frage, ob man in erster Linie Adeliger oder Parlamentarier gewesen sei, sondern ob und wie die eine Rolle die andere mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen habe. Diese Ambivalenz stelle auch eine Herausforderung für die anderen beiden Vorträge dar, so müsse man sich fragen, wieweit im Falle der Grafen Praschma und Magnis deren politische Identität durch Adeligkeit bestimmt gewesen sei und wie diese sich in ein weiter zu fassendes Phänomen des politischen Konservatismus einordnen ließen. Ähnlich stelle sich im Fall Wangenheims die Frage nicht nur nach dem „Obenbleiben“ eines aus seiner Herkunftsregion gelösten und in den modernen Verwaltungsapparat integrierten Adels, sondern auch nach den Bindekräften und Möglichkeiten des „Zusammenbleibens“ der sich ausdifferenzierenden Sozialgruppe.
Mit den Magnaten stellte die zweite Sektion der Tagung eine Gruppe in den Mittelpunkt, die einerseits wiederholt und prominent für das 19. Jahrhundert thematisiert worden ist,3 ohne jedoch andererseits als soziale Gruppe bislang systematisch erforscht zu sein. Eingangs befasste sich Clemens Skibicki (Köln) mit den Magnaten in ihrer hervorstechendsten Charakteristik, nämlich als frühe Unternehmer. Die Frage, ob die Magnaten dabei mehr als industrielle Pioniere oder als Nutznießer des sich entfaltenden Industriekapitalismus gesehen werden müssten, ließ er als weitgehend offen stehen, da sich gleichermaßen Belege für ein aktives unternehmerisches Handeln der Magnaten wie auch für die Bedeutung des von der klassischen Wirtschaftsgeschichte häufig überbetonten staatlichen Engagements finden ließen.
Simon Donig (Passau) untersuchte die Magnaten als diskursives Phänomen und verwies auf die glänzende Karriere, die den Magnaten als Chiffre im 20. Jahrhundert beschert gewesen ist. Der Magnatendiskurs habe seinen Anfang in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genommen, als die „schlesischen Magnaten“ noch recht unbestimmt mit den Besitzern der großen Latifundien gleichgesetzt wurden. Dies habe sich spätestens mit der Hochindustrialisierung geändert, da nun neben das Merkmal des Landbesitzes immer stärker die Rolle der Magnaten als Industrielle trat. Zugleich kam es zunehmend zu einer nationalen, sozialen und im Falle vor allem der protestantischen Magnaten auch religiösen Aufladung des Magnatenbegriffs. Mit den zwanziger und dreißiger Jahren lässt sich nicht nur eine Verwissenschaftlichung des Diskurses nachweisen, sondern auch der Aufbau jeweils nationaler Meistererzählungen von der Industrialisierung Schlesiens, als deren Protagonisten die Magnaten fungierten. So wurde einerseits von polnischer Seite das Bild des Unterdrückers der Arbeiter und Katholiken und Ausbeuters des industriellen Reichtums im polnisch gedachten Oberschlesien entworfen, während andererseits das deutsche, städtische Bürgertum die Magnaten als Kulturheroen feierte, die das „rückständige“ Oberschlesien in die wirtschaftliche Moderne geführt hätten und denen daher nationale, ökonomische und soziale Errungenschaften zugeschrieben wurden. Nachdem er die Kontinuitäten dieser Bilder des Diskurses der Zwischenkriegszeit in den Diskurs der Volksrepublik Polen und der westdeutschen Vertriebenen verfolgt hatte, betonte Donig die Relevanz, die diesen nach wie vor kaum problematisierten Bildern bis in die heutige Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur der beiden Länder zukomme.
Joanna Beszczyńska (Katowice) zeigte mit ihrem Vortrag über die Wahrnehmung des Schicksals der Familie von Hochberg-Pless in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie die familiären Skandale und finanziellen Schwierigkeiten des Fürstenhauses zu nationalen Chiffren umcodiert wurden.
In seinem Kommentar stellte Daniel Lalić (Passau) noch einmal die Bedeutung heraus, die mit dem verschwinden der allgemein sichtbaren und sozial klar distingierten Gruppe „Adel“ dem gesellschaftlichen Adel als sozialer Projektionsfläche zukam.
Wie sich besonders in den drei Sektionen des Folgetages zeigte, kommt der Dimension der Erinnerung für eine Adelsgeschichte Ostmitteleuropas eine zentrale Bedeutung zu. Michael Seelig (Marburg) befasste sich eingangs mit der kulturellen und politischen Entwicklung des vertriebenen ostelbischen Adels in der Bundesrepublik und betonte, dass besonders diese Gruppe in der frühen Bundesrepublik allein auf soziokulturelle Distinktionsmöglichkeiten zurückgeworfen worden sei. Wesentliche andere Bereiche der klassischen Lebenswelt – vom Erwerbsleben bis zum Heiratsverhalten – wurden demgegenüber aufgebrochen. Er wertete dies in Anlehnung an das Diktum von Josef Matzerath und Silke Marburg als „endgültige Entkonkretsierung“ der Gruppe. Zugleich zeigte er jedoch auch, dass sich der ostelbische Adel mit einem mehr oder weniger einheitlichen Kulturmodell „neu erfand“: Er entwickelte sich zu einer Habitus- und Lebensstilgruppe, die ein gewisses Maß von „adelig bleiben“ im Privaten und ein „Zusammenbleiben“ in der Bundesrepublik ermöglichten.
In ähnlicher Weise zeigte Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Gdańsk), wie sich eine ausgesuchte Gruppe von Adeligen in der Literaturgattung der Vertreibungsliteratur4 als Erinnerungsgemeinschaft konstituierte. Sie identifizierte Topoi und Bilder, mit denen das je Eigene und Fremde konstruiert wurde, wobei das Eigene als Bereich der Tugend, das Fremde als ein Negativbild formuliert worden seien (so etwa der urbane Raum oder die Industrie in der Vorkriegszeit). Sie verwies besonders auch darauf, dass auf dem Umweg über die bundesdeutsche Medienlandschaft die von dieser Gruppe von AutorInnen entworfenen Bilder der Vergangenheit die Topografie der Regionen im polnischen Gedächtnis heute mitgestalten.
In seinem Kommentar stellte Ewald Frie (Tübingen) das Jahr 1945 als Bruch und „Traditionsgenerator“ in den Mittelpunkt. Beide Vorträge zeigten, dass durch den Einschnitt paradoxerweise eine Übersetzung und Neuerfindung der Vergangenheit angestoßen worden sei. Die Vorträge hätten zugleich eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen, die zu vertiefen sich lohne. Wenn etwa dem ostelbischen Adel in der Bundesrepublik nur noch symbolisches Kapital im Bourdieuschen Sinne geblieben sei, so müsse man sich fragen, an welchen „Börsen“ dieses Kapital denn eigentlich gehandelt werden konnte. Angesichts der Abwesenheit des Adels als formal verrechtlichte Gruppe stelle sich zudem die Frage, wo „der Adel denn noch Adel sein“ konnte. Daher müssten verstärkt die Dimensionen des Privaten, die Familie, Netzwerke und die Beteiligung an Vereinen in den Blick genommen werden. Weiter müsse sich die Forschung besser darüber Rechenschaft ablegen, was es bedeute, dass (offensichtlich erfolgreich) ein Begriffsapparat angewandt werden könne, der eigentlich für die Frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert entwickelt worden sei. Schließlich setze ein Verständnis dessen, was als „Adel“ begriffen werde, notwendigerweise auch eine Kategorie des „Nichtadels“ voraus, die auf ihren Inhalt hin befragt werden müsse.
Während sich der Vortrag von Lea-Katharina Steller (Regensburg), der von Rüdiger Harnisch (Passau) kommentiert wurde, noch einmal mit autobiografischem Erzählen in einer nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn inhaftierten schlesischen Adelsfamilie befasste, ging es in den folgenden Sektionen primär um die Erinnerung an den Adel.
Bernard Linek (Opole) gab einen Überblick über die Bilder des schlesischen Adels in der polnischen Geschichtsschreibung. Dabei identifizierte er ausgehend vom 19. Jahrhundert eine Reihe von negativen Narrativen, die zum Teil bis in die moderne Forschung nachwirkten, da sie den Adel einer eingehenden Untersuchung nicht wert erscheinen ließen. Als zentral identifizierte er ein Narrativ des Verlusts, nachdem Schlesien durch eine Germanisierung des Adels Polen verloren gegangen sei. Zugleich trete der deutsche Adel primär als Ausbeuter der unterdrückten polnischen Bevölkerung in Erscheinung. In der Volksrepublik Polen sei dieses Narrativ dabei so erweitert worden, dass die industriell tätigen Junker als der preußische Weg zum Kapitalismus erschienen und so eine Kontinuität von der feudalistischen zur kapitalistischen Ausbeutung gestiftet worden sei. Der Adel bilde somit, kurz gesagt, vor allem einen Ort der fehlenden polnischen Erinnerung.
Sławomir Puk (Münster) lenkte in seinem Kommentar die Aufmerksamkeit darauf, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Schlesien nicht nur eine Landschaft gewesen sei, die durch eine ex negativo Erinnerung an den abwesenden Adel geprägt wurde. Durch die Vertreibung der Eliten aus den polnischen Ostgebieten seien zahlreiche polnische Adelige in den schlesischen Raum gekommen, die sich dort aufgrund ihrer Spezialkenntnisse beim Aufbau der sogenannten wiedergewonnen Gebiete unverzichtbar gemacht hätten.
Mit primär physischen Artefakten befassten sich dann die letzten beiden Vorträge der Tagung. Irma Kozina (Katowice) thematisierte die sich verändernde Architektur von Jagdschlössern des schlesischen Adels. In der vergleichsweise funktionalen Architektur der Jagdhütte des Prinzen Hohenlohe bei Koschentin sah sie eine Vorahnung bevorstehender sozialer Konflikte und eine bewusste Abkehr von den in den Jahrzehnten zuvor verbreiteten wilhelminischen Stilformen.
Michał Witkowski (Katowice) skizzierte Planungen zu einem Projekt, das sich mit dem Schloss Kopice der Grafen von Schaffgotsch sowie dessen beweglichem Inventar befassen soll. Er kontrastierte eingangs das vergleichsweise düstere Schicksal des Schlosses, das in den letzten Kriegstagen geplündert, und schließlich nach langem Lehrstand 1958 niedergebrannt sei, mit jenem anderer Schlösser, darunter der Umwandlung des Schlosses der Fürsten Pless in ein Museum, an der wichtige einheimische Funktionsträger beteiligt gewesen seien, oder auch dem späteren Abriss des Beuthen-Miechowitzer Palastes der Grafen von Tiele-Winckler. Der relativen Vergänglichkeit bzw. Teilüberlieferung der materiellen Artefakte stehe die Erinnerung der Bevölkerung gegenüber, die bislang gleichfalls noch nicht systematisch erforscht worden sei.
In ihrem Kommentar betonte Beate Störtkuhl (Oldenburg), dass sich angesichts der sich als dezidiert „bürgerlich“ verstehenden architektonischen Reformtendenzen um 1900 die Frage nach der Rolle des Adels überhaupt stelle, habe dieser doch kaum mehr eine klassische Mäzenatenrolle übernehmen können. Das gezeigte Beispiel werfe die Frage nach der Innovationsfreude des Adels und dem Grad der Individualisierung von Geschmack auf. Zugleich warnte sie davor, die Zeit nach 1945 als eine Verfallsgeschichte zu schreiben. Das „Phänomen Hirschberger Tal“ mit seinen Schlössern zeige, dass besonders seit der Wende das architektonische Erbe des schlesischen Adels hoch gefragt sei. Für eine sinnvolle Annäherung gerade an das oberschlesische Gedächtnis plädierte sie für eine enge fachübergreifende Zusammenarbeit von Geschichte, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie.
Thomas Wünsch (Passau) setzte mit seinem Schlusswort dieses Plädoyer fort. Er verwies auf das bedeutende Potential der in den polnischen Archiven lagernden Bestände für die Forschung, das in den Vorträgen deutlich geworden sei und rief zu einer verstärkten transnationalen Wissenschaftskooperation auf.
An den Zäsurcharakter des Jahres 1945 schloss auch die Schlussdiskussion an. Monika Wienfort unterstützte die von Ewald Frie herausgestellte Bedeutung des Jahres als Traditionsgenerator und warnte davor, allzu leichtfertig der in den westlichen adeligen Selbststilisierungen prominent figurierenden Epochenschwelle 1918 zu verfallen. Josef Matzerath und Beate Störtkuhl hoben beide die Wichtigkeit einer noch ausstehenden Studie über den Adel in der DDR hervor, die viel erhellendes als Vergleichsfolie beitragen könne. Ein Teil der Diskussion drehte sich schließlich noch um die Frage, inwieweit eine Adelsgeschichte des 20. Jahrhunderts noch eine tatsächlich sozial greifbare Gruppe voraussetze und wie ertragreich sie sein könne, wenn sie sich primär mit dem Bereich des metaphorischen, der Erinnerung und von Repräsentationen befasse.
Anmerkungen:
1Eric J. Hobsbawm: The age of extremes: the short twentieth century; 1914 -1991.London 2007. Zu einer Adelsgeschichte der Moderne vgl. Ewald Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze. In: Geschichte und Gesellschaft 33/3 (2007), 398–415; Eckart Conze: Totgesagt leben länger. Adel in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In: Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn/Peter Blickle (Hg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Ostfildern 2006, 107-121 sowie Monika Wienfort: Adel in der Moderne. Göttingen 2006.
2Karina Urbach (Hg.): European aristocracies and the radical right 1918 - 1939. Oxford u.a. 2007; Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 2003; in Teilen auch: Eckart Conze: Von deutschem Adel: Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert.Stuttgart u.a. 2000, außerdem Shelly Baranowski: East Elbian Landed Elites and Germany's Turn To Fascism: The Sonderweg Controversy Revisited. In: European History Quaterly 2 (1996), 209-240.
3Vgl. jüngst Toni Pierenkemper: Oberschlesische Magnaten als Unternehmer. In: Ders./Manfred Rasch (Hg.): Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter. Münster 2006, 131-155.
4Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. Wiesbaden 1996, 56.
Zitationsvorschlag: Simon Donig: Konferenzbericht: Adel in Schlesien, Tagung vom 18.-20. Dezember 2009, Passau. Organisatoren: Thomas Wünsch und Simon Donig. URL: http://www.uni-passau.de/index.php?id=6628.