Projektziele
Das 20. Jahrhundert war eine Zeit der dramatischen politischen, sozialen und ökonomischen Umbrüche. Das Spektrum der Erfahrungen, die Menschen im 20. Jahrhundert gemacht haben, reicht von Flucht und Vertreibung in Folge der Großdiktaturen und der katastrophalen Umbrüche der beiden Weltkriege bis zum „golden age“ bzw. den „trente glorieuses“ (Jean Fourastié) nach dem Zweiten Weltkrieg, die Westeuropa ungeahnten Wohlstand und demokratische Stabilität gebracht haben. Es sind diese gegensätzlichen Erfahrungen, die aus globaler Sicht aus dem „kurzen“ 20. Jahrhundert zwischen 1914 und 1989 ein „Zeitalter der Extreme“ (E. J. Hobsbawm) gemacht haben.
Das Forschungsprojekt thematisiert die sich verändernden Beziehungen von Menschen, Erinnerungen und Räumen über die Einschnitte des „Zeitalters der Extreme“ hinweg. Ein Schwerpunkt liegt dabei bewusst auf der bislang noch ungenügend untersuchten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es untersucht einerseits den schlesische Adel als eine Sozialgruppe, die durch Flucht und Vertreibung mehr noch als der Adel in Westeuropa gezwungen war, ihr Selbstverständnis und ihre Lebensstile neu auszurichten. Andererseits nimmt das Projekt auch den Raum, den der schlesische Adel über die Jahrhunderte geprägt hat, die Orte, mit denen sich die Erinnerung an den schlesischen Adel in der Zeit nach 1945 verknüpfte in den Blick: Schlösser und Gutshäuser, Parks, Bibliotheken und Sammlungen. Am Beispiel der materialen Kultur des schlesischen Adels lässt sich fragen, wie die Erinnerungspolitik in der Volksrepublik Polen den schlesischen Adel und seiner Geschichte national und sozial auflud, vereinnahmte oder dämonisierte.
Das wissenschaftliche Forschungsprojekt wird im Jahr 2013 durch einen auf das ganze 20. Jahrhundert ausgerichteten Dokumentarfilm begleitet, den Regisseur Andrzej Klamt realisieren wird, der bereits den Film "Die Schaffgotsch - Chronik einer vergessenen Adelsfamilie" gedreht hat. In seiner Gesamtheit verbindet das Projekt so die neuere Adelsforschung mit den sozial-, politik-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen der Zeit seit dem Ende des Kaiserreichs.