Teilprojekt: Adel ohne Land – Land ohne Adel?
Adel ohne Land – Land ohne Adel? Der schlesische Adel zwischen individuellem Gedächtnis und kommunistischer Erinnerungspolitik, 1945-1990. Bearbeiter: Simon Donig
Mit Flucht und Vertreibung im Jahre 1945 klafften Erfahrungsraum und Erwartungshorizont des schlesischen Adels wie wohl zu keinem anderen Zeitpunkt der Moderne und Postmoderne auseinander. Wesentliche Fixpunkte der adeligen Lebensweise gingen nun auch für jene Teile des Adels verloren, die bis dahin die klassische Moderne als relativ geschlossene Gruppe überstanden hatten. In Folge der Zäsur von 1945 konnte der Adel seine Familiengüter und Stammsitze nicht länger und in vielen Fällen sogar erst wieder nach 1989/91 besuchen, so dass ein wichtiges Element der familiären Traditionsstiftung wegfiel. Bibliotheken, Ahnengalerien und Sammlungen, mit denen sich das Gedächtnis der Familie verband, wurden am Ende des Krieges zerstört oder verstaatlicht.
Für eine soziale Gruppe, die sich schon seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als Erinnerungsgemeinschaft konstituiert hat, muss dieser Verlust besonders schwerwiegend erschienen sein. Das Projekt untersucht, wie die sozialen und lebensweltlichen Umbrüche seit 1945 Lebensstile und Selbstverständnis schlesischer Adeliger beeinflusst haben. Die Untersuchung ist als intergenerationeller und interfamiliärer Vergleich angelegt. Ziel ist es zum einen, unser Verständnis davon voranzubringen, was Adeligkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozial und kulturell bedeutet. Zum anderen fragt das Projekt danach, wie neue Strategien für die Erzeugung von Familienzusammenhalt und die Bewahrung von Gedächtnis hervorgebracht wurden und welche Rolle Familiengeschichte, Artefakte und die Erinnerung an Schlesien für die Identitätsbildung in den Familien hatten.
Zugleich untersucht das Projekt die Erinnerungspolitik in der Volksrepublik Polen anhand des Umgangs mit der materialen Kultur des schlesischen Adels in kommunistischer Zeit. Denn wo der Adel wich, blieben Räume und Artefakte, die in einer ihrem Selbstverständnis nach neuen Gesellschaft wie der Volksrepublik Polen der Deutung bedurften – zumal wenn diese Gesellschaften wie jene Mittel- und Osteuropas in der stalinistischen Phase so sehr auf Sichtbarkeit und Eindeutigkeit der öffentlichen Realität abgestellt waren.
Das Teilprojekt nähert sich dem Gegenstand somit durch einen doppelten Zugriff: Einmal als eine Geschichte des schlesischen Adels zwischen alter Heimat und neuem Leben in der Bundesrepublik oder als Teil einer transnational verstreuten adeligen Diaspora, zum anderen durch die Frage nach der „Allianz zwischen Herrschaft und Gedächtnis“, also der Erinnerungspolitik in der Volksrepublik Polen. Beide Untersuchungsstränge treffen sich, wo dem vetriebenen und geflohenen Adel in der zweiten Hälfte der 1970er und den 1980er Jahren zunehmend Reisen in die alte Heimat möglich wurden.
Das Gesamtprojekt ist auf einen Zeitraum von drei Jahren angelegt und wird 2013 abgeschlossen.